02 August 2023

Julius Mader: Die graue Hand – Eine Abrechnung mit dem Bonner Geheimdienst

Buchanfang
Dr. Schneider taucht auf
Der beigefarbene Mercedes 300 wird auf der Auffahrt des Palais Schaumburg kurz gebremst. Er hat an der Einfahrt ohne die üblichen Kontrollen sofort passieren dürfen. Die speziell ausgesuchten Doppelposten von der Sicherungsgruppe des Bundeskriminalamtes waren von der Ankunft des Mercedes schon telefonisch verständigt.
Kaum hält der Wagen, da springt ein Mann heraus und eilt die wenigen Schritte zum Eingangsportal. Trotz seines Alters wirkt er sportlich. Er hat den Hut ins Gesicht gezogen, trägt eine dunkle Sonnenbrille und eine hellbraune Diplomatentasche. Nur den in der Nähe stehenden Posten fallen noch seine abstehenden Ohren und sein dünner Schnurrbart auf.
Inzwischen ist der Mercedes mit seinen anderen Insassen auf den Parkplatz gerollt. Der Mann mit der Diplomatentasche aber geht jetzt durch die ihm offenbar schon vertrauten, prunkvoll ausgestatteten Flure des Palais Schaumburg zum Bundeskanzler. Erst unmittelbar vor dem Zimmer der Privatsekretärin nimmt er Hut und Brille ab, eine hohe, breite Stirn wird sichtbar. Sein Kopf gleicht einem mit fahler Haut überzogenem Totenschädel. In den tiefen Augenhöhlen zucken nervös die Lider, wodurch der unstete Blick des Mannes noch unterstrichen wird. Wer weiß, aus welchen Gründen er sich das Menjou-Bärtchen zugelegt hat. In primitiver Weise sollen Farbe und Pomade das dürftige Wachstum der schmutziggrauen Schnurrbarthärchen ersetzen.
Die Begrüßung ist hastig, der Kanzler und sein Staatssekretär Globke warten bereits. Die gepolsterte Doppeltür schließt sich hinter ihm. Die Sekretärin ist informiert, Adenauer will mit seinem Besucher ungestört bleiben. Der Kanzler konferiert ja nicht das erste Mal mit diesem mysteriösen Herrn, der da aus Süddeutschland kommt.
Wer ist nun dieser Dunkelmann, der im Palais Schaumburg ein- und ausgeht, der zu den wichtigsten Figuren des nach venezianischem Vorbild vom Kanzler geschaffenen Bonner „Schwarzen Kabinetts“ zählt?
Über diesen Mann hat die bürgerliche Presse der Bundesrepublik und des Auslandes schon oft geschrieben. Die Schlagzeilen sprechen für sich: „Bonns geheimnisvollster Besucher“ war in der Lüneburger „Landeszeitung“ zu lesen. „Der gefährlichste Mann des Westens“, hatte die „Allgemeine Zeitung“ in ihrer Mainzer Ausgabe orakelt. Die Züricher „Weltwoche“ nannte ihn: „Ein Mann ohne Gesicht“, und die in Essen herausgegebene „Westdeutsche Allgemeine“ konstatierte: „Der Mann mit den tausend Ohren“. Die „Welt am Sonntag“ versuchte ihre Leser mit dem Knüller „Der Mann im Dunkeln“ zu locken und die Hamburger „Zeit“ mit dem Titel „Der Mann des Geheimnisses“. Das Dortmunder „Westdeutsche Tageblatt“ nannte ihn den „Schattengeneral“, das Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ verlieh ihm den Titel „Des Kanzlers lieber General“. Und schließlich gestand die Stuttgarter Zeitung „Christ und Welt“: „Der Mann, von dem man nichts weiß.“ Wir aber wollen über ihn Näheres wissen.
Gedungene Tintenkulis bemühten sich um Legenden für diesen Mann, wobei es nicht tragisch genommen wurde, daß sie sich oft widersprachen. Er selbst tat eifrig ein weiteres dazu, seinen Werdegang zu vertuschen, seine Tätigkeit zu verheimlichen und seine Person vor der Öffentlichkeit abzuschirmen. So entstand in der westlichen Presse und Literatur ein seltsames Gemisch von Wahrheiten, Halbwahrheiten und Unwahrheiten.
Tausend Dollar hatten amerikanische Illustrierte für ein Nachkriegsfoto von diesem Mann geboten, doch keinem Reporter gelang es, diese Prämie einzuheimsen. Beginnen wir also, das um ihn geschaffene Mysterium zu entschleiern: Sein Sohn Christoph bezeichnete als Primaner seinen Vater als „Kaufmann, der mit Patenten zu tun hat und im Interesse der Bundesregierung arbeitet“. Das ist eine Lüge. Seine Tochter Katharina studierte an einer Münchener Höheren Handelsschule unter einem Namen, der nicht dem richtigen Familiennamen entsprach. Vor seinem vor der Öffentlichkeit geheimgehaltenen Wohnhaus in Berg bei Starnberg, Nr. 68, in Oberbayern patrouillieren in unauffälliger Weise Männer in Zivil. Sie kümmern sich aber nicht darum, daß der Wagen, der das Grundstück verläßt, immer wieder neue Nummernschilder trägt.
Auf seiner Visitenkarte, die er bei Bonner Institutionen zu verwenden pflegt, steht deutlich zu lesen „Dr. Schneider“. Diesen Namen hat er nicht unklug gewählt. Immerhin haben in Deutschland, Österreich, in der Schweiz und in Frankreich seit 1908 nicht weniger als 1115 Personen den akademischen Grad eines Doktors erworben, die alle den Namen Schneider tragen. Da auf der Visitenkarte noch dazu der Vorname fehlt, hätten selbst berufserfahrene Kriminalisten Monate Ermittlungsarbeit zu leisten, um die Personenidentität festzustellen. Und doch kämen sie zu keinem greifbaren Ergebnis. Denn der Mann ist weder Doktor, noch heißt er Schneider. „Schneider“ ist nämlich sein Deckname, und es wirft ein bezeichnendes Licht auf die im Bonner Staat vertretene Rechtsauffassung, wonach die unrechtmäßige Führung eines akademischen Titels, wie der des Doktors, in Verbindung mit einem Decknamen weder verboten noch strafbar ist.
Der Mann, dessen Spuren wir verfolgen wollen, heißt mit seinem bürgerlichen Namen Reinhard Gehlen.
Heißt er aber wirklich so? Die Coburger „Neue Presse“ erhebt ihn in den Adelsstand und macht ihn in ihrer Ausgabe vom 11. Dezember 1956 zum „von Gehlen“. Sie steht damit nicht allein. Ein Zufall? Nein. Selbst seriösere Blätter sind auf diese Fehlinformation hereingefallen, die aller Wahrscheinlichkeit nach Reinhard Gehlen selbst verbreitet hat, um sogar seinen Klarnamen mißverständlich umzuprägen.
Greift man, um sich zu vergewissern, zu dem in Westdeutschland erschienenen „Genealogischen Handbuch der Adeligen Häuser“, A, Band III, 1957, so kann man dort auf den Seiten 433/434 nachlesen:
Geboren in Breslau? Halt! Da ist doch dem hauptbearbeitenden Genealogen Hans Friedrich von Ehrenkrook schon wieder eine wenig ehrenwerte Fälschung nachzuweisen.
Reinhard Gehlen ist nicht in Breslau geboren, sondern in Erfurt. Sein Vater, der kaiserliche Oberleutnant Walther Gehlen, wohnte in Reinhards Geburtsjahr, wie das Hauptregister des Standesamtes Erfurt und das Adreßbuch der Stadt Erfurt für 1902 nachweisen, in der Löberstraße 63/64. Dort – mit echt preußischer Akribie schrieb der Standesbeamte: „Zu Erfurt in seiner Wohnung... ein Knabe geboren“ kam der Offizierssprößling Reinhard zur Welt. Wo immer man im Falle Reinhard Gehlen hingreift, bedarf es der Vorsicht. Er ist nicht der in der idealisierenden Dichtung westlicher Gazetten erscheinende „Mann im Dunkel“, sondern der Mann, der mit allen Mitteln seine Person und sein Treiben zu verdunkeln versucht. Fälschungen über ihn sind die Regel. Deshalb wird die eben erwähnte nicht die letzte sein, die es aufzudecken gilt.
In der von ihm dirigierten Organisation taucht Reinhard Gehlen mit Namen überhaupt nicht auf. Er versteckt sich dort hinter dem Decknamen „Doktor“ und hinter der dem Außenstehenden nichtssagen- den „Nr. 30“.
Die „Münchner Illustrierte“ unternahm erst kürzlich den Versuch, in einer Artikelserie „Geheim“ etwas Licht in das Dunkel um Reinhard Gehlen zu bringen. Das scheiterte, wie vorauszusehen war, und in ihrer zweiten Januarausgabe des Jahres 1960 mußte sie dem Leser ihr Unvermögen eingestehen:
„Und wer weiß überhaupt etwas von der Organisation Gehlen? Die Presse zeigt sich merkwürdig uninformiert. Aber zwischen der Zentrale des Spionagegenerals und dem Bundeskanzleramt wirken einflußreiche Männer an einem Faden, der von Tag zu Tag stärker wird.“
Hier taucht das Wort „Spionagegeneral" auf. Wie es zustande kam, soll untersucht werden.

Inhalt:
Dr. Schneider taucht auf .....5
Vor dem ersten Schuß .....10
Karriere ohne Skrupel .....18
Zeitzünderbombe liefert neuen Beweis .....41
Der diabolische Plan .....43
Flucht in die Katakomben .....53
Ausverkauf der Scheintoten .....57
Die „graue Hand“ wird wieder aktiv .....68
Das Doppelspiel .....71
Die Gesetzlosen .....90
Die Saat des Satans .....101
„Scheinwerfer abschalten!“ .....122
Im Schloß der Gräfin Totenbach .....139
Die Technik des Verderbens .....147
Der volle Safe .....154
Dunkle Kanäle .....157
Geladen und entsichert .....175
Viele Schatten .....189
Perfide Fälscher .....198
Gelockt - geschockt - gemordet .....208
Der Zerberus des versenkten Schatzes .....218
Der Arm ist kürzer geworden .....229
Am Ende kann der Anfang stehen .....235

Umschlag und Einbandentwurf: Ingried Schoenrade

Kongreß-Verlag, Berlin

1. Auflage 1960
2. Auflage 1961

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