16 Dezember 2023

Nikolai Dementjew: Ingas Weg

Buchanfang:
Die Familie, in der ich aufwuchs

Erst etwas über mich...
Ich bin einsvierundsechzig groß und wiege zweiundsechzig Kilo. Blond. Heißen tu' ich Inga – sehr klangvoll und ungewöhnlich. Meine Eltern hatten nämlich eine riesige Vorliebe für alles Originelle. Ich mußte was ganz Besonderes sein, und sie kümmerten sich schon rechtzeitig drum, gleich bei meiner Geburt.
Ich wuchs leicht und sorglos auf. So wie man Taxi fährt auf spiegelglattem Asphalt! Bloß daß ich nicht zu zahlen brauchte, das besorgte immer ein anderer.
Den Eltern hab' ich's zu verdanken, daß ich mich stets an die Regel hielt: Ich tu', was mir grad Spaß macht!
Und anfangs unterstützten sie mich mit allen Kräften darin. Manchmal schien mir sogar, ich sei das klügste Mädel von der Welt. Und das allerschönste dazu. Und ich könnte alles fertigbringen. Es sei nur ein dummes Mißverständnis, daß ich mit dem übrigen Gemüse vor der Kinokasse nach Karten anstehen mußte ...
Im Innern war ich aber doch wohl kein schlechter Mensch, bloß weich wie Wachs, ich ließ mich biegen, wohin man wollte. Und heißblütig – ganz wie Vater. Wenn's drauf ankommt – das hab' ich auch von ihm –, bin ich schonungslos offen. Wenn ich erst mal hochgehe, dann nehm' ich kein Blatt vor den Mund und ballere dazwischen. Wenn's auch mich selber trifft, Hauptsache es kracht!
Merkwürdig, am besten stand ich mich mit unserer Hausstütze, Babuschka Agafja.
Das weiß ich noch, als ob's gestern gewesen wär' ... Ich wache nachts auf, das Zimmer ist dunkel, nur die Laterne auf der Straße schaukelt, und über die Wände kriechen langsame Schatten, immer hin und her. Richtig unheimlich konnte einem dabei werden, ich bekam immer so ein Frostgefühl im Nacken. Dann rief ich unter der Decke hervor nach Babuschka Agafja, nicht nach Mama. Sie kam auf Zehenspitzen an mein Bett, setzte sich zu mir und schob ganz behutsam die Hand durchs Gitter des Kinderbettes. Ich faßte sie ganz fest und drückte die Backe dagegen - eine liebe Hand hatte sie, rauh und schwielig. Gleich ging mein Atem wieder leicht, und es gab nichts Unheimliches mehr auf der Welt. Babuschka Agafja erzählte derweil schon mit ihrer sanften Flüsterstimme – ganz warm wurde mir dabei – vom schlauen Fuchs oder Meister Petz, dem komischen Tolpatsch. Und ich weiß, obwohl ich's im Augenblick nicht sehen kann, daß Babuschka Agafja kleine, immerfort tränende, herzensgute Augen hat, weich und zärtlich. Und ein weißes Tüchlein, säuberlich unterm Kinn verknotet. Ihr runzliges Gesicht, rosig, als sei sie gar keine alte Frau, war irgendwie besonders klar und hell ... Überhaupt war sie still, unauffällig und immerfort mit etwas beschäftigt. Ständig tat und arbeitete sie etwas. Unermüdlich. Und gerecht war sie und für mich absolut notwendig.
Die Hauptperson in unserer Familie war Mama. Vater hatte Angst vor ihr. In der Kindheit, also vor langer Zeit, fürchtete ich mich auch vor ihr ... Ich will es gleich vorwegnehmen: Mama kenn' ich durch und durch. Bis zum letzten Schräubchen. Wie meine Puppen. Wenn man als Kind die Puppe kaputt macht und hineinguckt, weiß man gleich, was für ein Mechanismus ihr die Augen auf- und zuklappt und wieso sie quietscht. Der Mechanismus in den Puppen ist immer primitiv. Selbst in den teuersten und schönsten. Nach Mama drehten sich die Männer um.
Keine Sorge, sie wußte das.
Groß ist sie und stattlich. Eine blühende Frau. Den Zopf trägt sie um den Kopf geflochten; er ist dick und schwer und von einer Farbe wie altes Gold. Dazu hat sie strahlende blaue Augen. Sie läßt die Wimpern über die Augen sinken, daß ein sachter Schatten über ihr Gesicht fällt, und dann lächelt sie langsam, zärtlich und rätselhaft ... Warum und für wen wohl? Und in ihren rosigen Wangen bilden sich Grübchen. Sie hat Lippen wie ein Mädchen, rot und schwellend. Mit einem Wort – Maria, die Zarentochter aus dem Märchen!
Sie geht nicht wie irgend jemand, ihr Gang ist sorgfältig eingeübt – maßvoll und selbstsicher. Sie geht nicht, sondern schreitet dahin. Ihre vollen, wohlgeformten Beine zeigen bei jedem Schritt unnachahmliche Grazie. Mit ihren dreiundvierzig Jahren spaziert sie bei zwanzig Grad Frost in hauchdünnen Kapronstrümpfen herum ...
Sie wissen ja, es gibt solche Frauen: ein bißchen mehr als vollschlank und sehr schick angezogen. .........

Titel der Originalausgabe: Иду в жизнь
Einbandentwurf: Erhard Schreier

Verlag Neues Leben, Berlin
Buchgemeinschaft der FDJ

1. Auflage 1960

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