28 Januar 2024

Jannis Ritsos: Was für seltsame Dinge – Roman?

Verlagstext:
Die kleinen Dinge des Alltags zu erfassen, im scheinbar Nebensächlichen den Keim des Wesentlichen zu endecken – eine mühevolle, aber beglückende Aufgabe, der sich nur ein Dichter zu unterziehen wagt. Um »das Komplizierte und Unendliche, das Tyrannische und Bewunderungswürdige der äußeren und inneren Welt« zu ergründen, formte Jannis Ritsos aus der Fülle seiner Erinnerungen und aus aktuellen Eindrücken ein farbiges Mosaik, das Spiegelbild seines eigenen, bewegten Lebens ist. Immer wieder sind es die geringfügigen, die unbeachteten Dinge, die Erlebtes wachrufen und den Sinn für das Grundsätzliche schärfen: ein Stuhl, ein Schuh, ein Vogel, die Papierdrachen in den Bäumen, die Regentropfen auf den Zeltdächern der Verbannten von Ai-Strati und die Blüten im Schaufenster des Athener Blumenhändlers Stephanos.
Was für seltsame Dinge, die, von der Phantasie verzaubert, neue Dimensionen erhalten. Was für seltsame Dinge, die, ihrer Nichtigkeit entrissen, dem Betrachter Vergangenes wie Gegenwärtiges nahebringen.
Der griechische Dichter Jannis Ritsos bezeichnete sein tiefgründiges Selbstgespräch als »Roman«, versah diese Genrebezeichnung aber sogleich mit einem Fragezeichen. Er wurde 1909 in Monemwassia auf der Halbinsel Peloponnes geboren. Im Verlag Volk und Welt erschienen seine Gedichtbände »Die Wurzeln der Welt« (1970), »Kleine Suite in rotem Dur« (1982) und »Erotika« (1983).

Buchanfang:
Dieses und das andere
Seltsame Dinge sind es, ganz ohne Sinn, völlig unbedeutend, nenn sie dumm; und trotzdem, ich weiß nicht wie und warum, haben sie für mich eine gewisse nein, nicht nur eine gewisse, sondern eine große, einzigartige Bedeutung: Die Tatsache, daß sie unbedeutend (und seltsam) sind, zwingt mich vielleicht nicht, nach Sinninhalten, Ideen, Zielen, Erklärungen, Rechtfertigungen, Spitzfindigkeiten, Pflichten, Einschränkungen, Verboten zu suchen. Ich begaffe sie bloß und erhole mich dabei. Als schliefe ich und all dies geschähe von selbst, ohne mein Eingreifen, selbst dann, wenn sie mich betreffen, wenn sich zwischen meinen Beinen Bindfäden verstricken, Kisten, Steine, Wasser, ein Fangeisen, ein alter Papageienkäfig, ein harter, vorsintflutlicher weißer Stehkragen mit Rostflecken, ein abgeschnittenes Hühnerbein, das lustig die Krallen bewegt; damals in der Sommerfrische, zu Mittag, im großen Weinberg (was für ein Licht, und diese Zikaden, auch ein Rebhuhn gab es und einen kleinen Fluß, ertränkt in Korbweiden und Brombeersträuchern), damals also zerrten wir an dem oberen Ende des Hühnerbeins, wir zupften an der harten Haut, an den Nerven (oder an den Sehnen – ich weiß nicht, wie sie heißen), ja, und sie bewegten sich sehr lustig, die Krallen mit den langen, krummen Nägeln – Bewegungen waren das, als bekreuzigten sich Greise – nein, nein, es war eher wie ein komisches Nachäffen dieser greisenhaften Gebärden, als verscheuche man eine Fliege von der Stirn einer kranken, ......

Aus dem Neugriechischen von Thomas Nicolaou
Einbandentwurf: Lothar Reher

Verlag Volk und Welt, Berlin
Volk-und-Welt-Spektrum Nr. 200

1. Auflage 1985 

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