29 Januar 2024

Rolf Hochhuth: Spitzen des Eisbergs – Betrachtungen Dialoge Skizzen Essays

Rolf Hochhuths bisheriges Werk wurde für diesen Band einer Scherentortur unterworfen. Sieben Stücke, zahlreiche Essays, Artikel und Reden sowie eine Menge unveröffentlichter Arbeiten wurden zerschnitten. Es entstand ein Berg von Texten unterschiedlicher Länge – zwischen zwei Zeilen und zehn Seiten. Sie wurden sortiert, viele verworfen, viele, viel zu viele für gut befunden, wieder wurde geklebt und geschnitten, wieder geordnet ... Allmählich kristallisierte sich eine thematische Struktur heraus. Entstanden ist schließlich das Buch eines Lesers, zum Gebrauch für alle Leser und Freunde Rolf Hochhuths. Es ist zugleich ein Dialog zwischen Verlag, Herausgeber und Autor, der die Arbeit an dieser seiner Zwischenbilanz mit Ermunterung und Skepsis begleitet, durch die Öffnung seines Archivs, durch Aussonderung von ausgeschnittenen Texten und Neuvorschläge unterstützt hat.
Dieser Sammelband spiegelt die vehemente Zeitgenossenschaft des 1931 geborenen Rolf Hochhuth. Er ist ein Autor, der sich nicht nur auf die Medien Bühne und Buch beschränkt, der nicht nur das Feld seiner Literatur beackert, sondern überall dort Stellung bezieht, persönlich und literarisch, wo er sein oberstes humanes Prinzip, die Unantastbarkeit des Menschen, gefährdet sieht. Rolf Hochhuth läßt willentlich und wissentlich kein Thema aus, das hat ihm oft maßlose Vorwürfe eingetragen, nicht zuletzt den unaufhörlichen der Inkompetenz, das hat ihn aber auch, seit dem „Stellvertreter“, zu einer Instanz gemacht, in der BRD und darüber hinaus.
Dieses Buch soll die bisherigen Hochhuth-Editionen von Volk und Welt ergänzen. Da die Zusammenhänge der fiktionalen Werke aufgelöst wurden, treten einzelne Textpassagen stärker hervor. Sie sollten im einzelnen und ganzen Vergnügen bereiten, nachdenklich stimmen, aber auch Kritik herausfordern. Jeder Leser möge sich aufgefordert fühlen, seinen eigenen Dialog mit Rolf Hochhuth zu führen.

Buchanfang:
Alter
Sehr gern besuche ich sehr alte Menschen: Sie wissen, was kein anderer mehr weiß; sie glauben weder einer Religion noch einer Ideologie, sondern höchstens dem – und auch dem nicht alles –, dessen Gesicht und Stimme sie überzeugen; sie nehmen außer ihrer Ernährung, diesem Letzten, das sie erotisiert, nichts mehr völlig ernst; sie haben immer Zeit, denn sie stehen am Ufer zur Ewigkeit, von der wir zwar nichts ahnen – die jedoch immerhin den Zeitbegriff der hier noch Geschäftigen als blödsinnig erweist; in fast allem, was sie sagen, ist schon dessen ironische Aufhebung – überhaupt ist bei allem Lebensverdruß Heiterkeit um sie, die zwar nicht wärmt, sie auch vor keiner Verbitterung schützt, ihnen jedoch die Sicht weitet wie an sehr späten, kalten Oktobertagen die Sonne, die auch nicht mehr wärmt, aber aufklart. Um sie ist jene Freiheit, die total Ausgebombte nicht selten vor der Ruine ihres Hauses verspürten. Komik verdrängt oft alles Ehrwürdige, das ihrer Erscheinung das Alter ›geschenkt‹ hat – nichts hassen sie so sehr wie diese ›Geschenke‹. Hamsun, der dreiundneunzig wurde, äußerte schroff, das Alter mache nicht weise, sondern alt »und sonst nichts«. Ein Mann, den mehr als fünfundachtzig Jahre derart ausgetrocknet und kleingeschrumpft hatten, daß er nicht viel höher mehr war als sein Urenkel, der Abc-Schütze, war auch luftleicht und sagte selber, er müsse, damit ihn nicht der Wind davonblase, in jede Hand ein Bügeleisen nehmen, wenn er ausgehe. Doch selbst dann, wenn ein Gespräch mit ihnen nicht einmal mehr einen solchen Witz ›einträgt‹, weckt noch die wortlose Anschauung sehr alter einzelner ähnliche Empfindungen wie die sehr alter Bäume, an die man ja auch nicht mit der Frage herantritt, ob sie noch tragen. Und wenn diese Uralten sich meist nicht mehr erinnern können, was vor sechzig Minuten geschehen ist oder was sie da sagten, weshalb sie es noch einmal sagen oder noch zweimal – was vor sechzig Jahren geschah, ........

Inhalt:
Ein Alphabet unseres Lebens ...... 5
Frau und Mann ...... 129
Staatsbürger sein ...... 175
An der Rampe ...... 221
Vom Beruf des Schriftstellers ...... 251
Geschichte ist Naturgeschichte ...... 279
Nachbemerkung ...... 323
Quellenverzeichnis ...... 328

Einbandentwurf: Gerhard Medoch

Verlag Volk und Welt, Berlin

1. Auflage 1982
2. Auflage 1987

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