29 Januar 2024

Albrecht Franke: Zugespitzte Situation

Buchanfang:
Ich hatte längere Zeit überhaupt nicht an Simone Kreuzner gedacht. Viele Probleme, darunter der Umzug in eine neue Wohnung, beanspruchten meine Aufmerksamkeit. Durch eine zufällige Begegnung mit Simones Vater geriet ich jedoch plötzlich in einen Strom von Erinnerungen.
Kreuzner fuhr mit einem Pferdegespann durch den Neubauring. Daß er in der Schoßkelle saß und kutschierte, sah ich allerdings erst, als wir uns auf gleicher Höhe befanden. Wir erkannten uns fast gleichzeitig. Kreuzner nickte mir knapp zu und trieb dann seine Gäule an. Ich sagte ebenfalls nichts, hob nur die freie Hand zu einer lässigen Grußgebärde. Wahrscheinlich hätte ich ihn angesprochen und mich nach Simone erkundigt, wenn sein Gruß freundlicher ausgefallen wäre. Aber konnte ich das überhaupt erwarten? Ging es um Simone oder um Nuancen der Freundlichkeit? Trotzdem konnte ich mich nicht entschließen, Kreuzner zu folgen. Ich bog sogar in einen tunnelartigen Hausdurchgang ein, als ich sah, daß Kreuzner am Ende der Straße anhielt, um die Kübel zu leeren, die man für die Sammlung von Küchenabfällen im Neubaugebiet aufgestellt hat. Mein Spaziergang endete wie eine Flucht.
Ist also doch nur Unsicherheit geblieben? Oder etwas wie eine Befürchtung, Schaden angerichtet zu haben? Vielleicht würde ich mich sicherer fühlen, wenn man mir Eigenmächtigkeit, Wichtigtuerei oder die Verletzung von Dienstvorschriften unterstellt hätte.
Aber alle hatten schweigend mein Vorgehen akzeptiert: Kreuzners, Simone, der Direktor, selbst Eveline. Ich habe mich nicht rechtfertigen müssen. Auch nicht deswegen jetzt, nach mehr als einem Jahr, der Versuch, die Vorgänge zu rekonstruieren. Vielmehr geht es darum, daß ich, was damals geschah, nicht als endgültig gelöst oder abgeschlossen empfinden kann.
Zurückdenken.
Reminiszenzen. Auch an das Gefühl von Ohnmacht und Sprachlosigkeit. Bezeichnend, daß immer nur von der »Sache Kreuzner« die Rede war, mit einem Wort jongliert wurde, das einen Verstoß gegen die Disziplin assoziiert. Simone Kreuzners Tat als das anzusehen war am einfachsten, auf diese Weise ließ sie sich in den täglichen Schulbetrieb eingliedern, gewann den Schein von Normalität. Es war die Zeit, in der ich allmählich das Ausmaß der indolenten Bequemlichkeit begriff, die ich mir während des Jahrzehnts meines Lehrerdaseins nach und nach zugelegt hatte. Freilich, da waren gute Vorsätze, ein paar Extratouren, der Wille zum Anderssein und Andersmachen. Trotzdem begann ich, mir einzureden, daß allein gute Stoffvermittlung und Ruhe in den Klassen wichtig seien. Ansichten eines im großen und ganzen braven Pädagogen mit pünktlichen Gehaltshöherstufungen, regelmäßigen Prämierungen und einer Bronzemedaille für treue Dienste. Im Trott von Schuljahr zu Schuljahr, von Ferien zu Ferien, ein Leben wie am Schnürchen, in ruhiger, gleichmäßiger Bewegung.
Der Schnitt dann unerwartet, ein Sturz gleichsam. Vor einem Jahr schien es mir, als sei alles ohne jede Ankündigung gekommen. Inzwischen glaube ich, daß die Vorzeichen von mir nicht bemerkt wurden.
Das Bild muß unvollständig bleiben. Geordnete Fakten an Stelle sich überschneidender Abläufe. Heftige Erschütterungen und ausgestandene Schrecken als Erinnerung.

Schutzumschlag, Gestaltung: Monika Böhmert

Union Verlag, Berlin

1. Auflage 1987
2. Auflage 1989

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