17 Februar 2024

Alberto Moravia: Das Paradies – Erzählungen

Verlagstext:
Alberto Moravia, geboren 1907, meistübersetzter italienischer Schriftsteller der Gegenwart, verdankt seine bereits über Jahrzehnte anhaltende Popularität nicht allein dem griffigen, salopp-ironischen Stil seiner Prosa, sondern in gleichem Maße einem ausgeprägten Sinn für aktuelle Probleme, für Themen, die „in der Luft liegen“. Seit seinem aufsehenerregenden Erstling „Die Gleichgültigen“ (1929) hat es Moravia immer wieder verstanden, ein aus der historischen Situation erwachsendes Lebens- und Zeitgefühl in anschauliche Bilder zu fassen. Im „Paradies“ betreibt er die luzid-sarkastische Analyse menschlicher Beziehungen, die durch die Macht der Dinge, die Regeln einer auf Besitz gegründeten Welt, vergiftet sind. Vierunddreißig bürgerliche Frauen kommen hier zu Wort, jede erzählt in der ersten Person ihre Geschichte. Ausgangspunkt ist stets ein gestörtes Verhältnis zur Umwelt, zur Familie, zum Mitmenschen, das in den Frauen seltsame Reaktionen bewirkt. Um sich von Frustrationen und Ängsten zu befreien, um ihre innere Leere und Isolation ertragen zu können, konzentrieren sie sich auf eine fixe Idee, ein Verhaltensmuster, das ihrem Dasein, wenn schon nicht einen Sinn, so doch eine lebbare Form geben soll. Was im einzelnen Fall als eigenartiger Tick erscheinen könnte, wird im Zusammenhang als neurotische Reaktion auf einen unerträglichen Zustand begreifbar. Das Exzentrische erweist sich als das Normale, die heillose Schrulle enthüllt sich als Antwort auf eine defekte Welt

Buchanfang:
Kalkuliertes Risiko
Er sagt oft: „Mach mich nicht wild“, und dann schaue ich ihn an und sehe, daß er alles andere ist, nur kein wildes Tier. Zumindest nicht so eins, wie er es meint, wenn er sagt: „Mach mich nicht wild.“ Er ist ein kräftiger junger Mann, brünett, mit hellen Augen, und er ist so stark behaart, daß die Haare seine Armbanduhr am Handgelenk überwuchern; aber er ist ein gesitteter, beherrschter, höflicher, wohlerzogener Mensch. Gekleidet wie ein Künstler, wenn man so will, mit Pullover, Anorak, Niethosen, Wildweststiefeln; aber alles neu, picksauber, wie bei einer Schaufensterpuppe in einem Konfektionsgeschäft. Ich sage zu ihm: „Was heißt wild, wo ist da was Wildes? Weißt du, was du bist? Ein Kavalier aus dem achtzehnten. Jahrhundert, ein Galan, ein Schönling. Dir fehlt nur noch der Degen an der Seite, die Perücke mit den langen Haaren hast du ja schon.“ Immerhin sage ich all das ohne Boshaftigkeit, als herzlich zugetane, verliebte Ehefrau, die ich ja bin.
Aber ich langweile mich bei ihm; und wenn wir sonntags geruhsam Arm in Arm spazierengehen, dann merke ich, daß mein Blick unwillkürlich in der Menge umherschweift und nach anderen Gesichtern, anderen Physiognomien Ausschau hält. Ich ertappe mich bei dem Gedanken: Der da, der mit der niedrigen Stirn, der gebogenen Nase und dem breiten, hin und wieder zuckenden Kinn, würde der mir eine Ohrfeige geben? Oder der andere da, der mit dem hageren, bleichen, ausgemergelten Gesicht, dem lippenlosen Mund, der schmalen Nase und den stahlgrauen Augen, würde der mir ganz langsam den Arm umdrehen, bis mir vor Schmerz die Sinne schwinden? Fast als erriete er meine Gedanken, spüre ich ab und zu an meinem Arm, daß sich seine mächtigen Muskeln (er ist stark, bärenstark, er trainiert dauernd, auf dem Sportplatz, im Schwimmbad, auf dem Tiber) erregt straffen. Sie ziehen sich zusammen, als wollten sie mir sagen: Wir sind da, gib acht, wir sind wirklich da. Aber ich bin nahe daran, die Achseln zu zucken: Ach, da wäre was anderes vonnöten als ein paar gestraffte Muskeln.

Titel der Originalausgabe: IL PARADISO
Aus dem Italienischen von E.-A. Nicklas
Einbandentwurf: Lothar Reher

Verlag Volk und Welt, Berlin
Reihe:
Volk und Welt Spektrum Nr. 58
1. Auflage 1973
2. Auflage 1974

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