03 Mai 2024

Leonid Solowjow: Chodscha Nasr ed-din

Vorwort
Chodscha Nasr ed-din ist eine Gestalt, die noch heute in der orientalischen Überlieferung lebt. Sie ist ein Ausdruck der Volksphantasie, der auch bei europäischen Völkern sein Wiederspiel findet, wie etwa im spanischen Gil Sans, oder im niedersächsisch-flämischen Till Eulenspiegel, ja selbst noch im märkischen Hans Klauert.
Bei Verschiedenheit der Erscheinungsform enthüllt sich die wesensmäßige  Verwandtschaft in den hervorstehendsten Charakterzügen: Landstreicher sind sie alle, ihr Beutel ist so leicht wie ihr Herz und kaum schwerer wiegt ihr Respekt vor den großen Herren dieser Erde, vor geistlichen wie weltlichen Würdenträgern. Die schärfste Waffe, die sie zu führen verstehen, ist ihr Witz, ihr kecker, listenreicher, nie um einen Ausweg verlegener Verstand, mit dem sie sich munter durchs Leben schlagen, von einer inneren Unrast getrieben, die sich stärker als jede Bindung erweist. So sind sie, wie der Wind, bald hier, bald da und allenthalben zugleich.
Ein Reiz umwittert diese Gestalten, eine Verlockung, der nicht zuletzt die Dichter erliegen, und so hat fast jeder dieser ewigen Landstreicher im Werk eines Meisters seine besondere Deutung erfahren. .........

Aus dem Russischen von Ena v. Baer.
Die Bearbeitung der vorliegenden Ausgabe erfolgte durch Elisabeth Kessel.
Illustrationen von Eva-Maria Beger

Aufbau-Verlag GmbH, Berlin
1. Auflage 1948
2. Auflage 1948
3. Auflage 1951

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Buchanfang:

Sein fünfunddreißigstes Lebensjahr trat Chodscha Nasr ed-din auf der Wanderschaft an.
Mehr als zehn Jahre hatte er bereits in der Verbannung verbracht und war aus einer Stadt in die andere, aus einem Land in das andere gezogen. Er hatte Meere und Wüsten durchquert, hatte im blassen Schein eines Hirtenfeuers auf nackter Erde geschlafen oder in den engen Höfen der Karawansereien, deren staubige Finsternis bis zum Morgengrauen vom Seufzen der Kamele erfüllt war und vom dumpfen Klang ihrer Glocken. Düstere, verräucherte Kneipen dienten ihm als Herberge. Wasserträger, Bettler, Kameltreiber lagen hier durcheinander und allerlei elendes Volk, dessen grelles Geschrei schon am frühen Morgen auf dem Markt und in den engen Straßen der Stadt erscholl.
Und abermals hallte die steinige Straße unter den Hufen seines Esels wider, und weiße Staubwolken stiegen auf. Die Sonne strahlte in der Himmelsbläue, und Chodscha Nasr ed-din mußte die Augen zusammenkneifen, wenn er zu ihr emporblickte. Taubedeckte Felder, Wüsten, in denen Kamelgerippe im Sand bleichten, grüne Gärten und schäumende Flüsse, düstere Berge und heitere Weiden lauschten Chod- scha Nasr ed-dins Liedern. Immer weiter und weiter führte sein Weg. Er schaute nicht zurück, bedauerte nie Vergangenes und fürchtete die Zukunft nicht. In den Städten, in denen er geweilt hatte, blieb die Erinnerung an ihn lebendig. Die Mullahs und die Fürsten wurden blaß vor Zorn, wenn sie seinen Namen hörten. ........

Übersetzung aus dem Russischen von Ena v. Baer
Illustrationen von Eva-Maria Groh

Der Kinderbuchverlag, Berlin
Mit freundlicher Genehmigung des Aufbau-Verlages
1. Auflage 1958

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