17 September 2024

Jacek Joachim: Bridge

Heftanfang:
„Schon der fünfte Selbstmörder in diesem Monat“, stöhnte Grzywiński, als wir endlich im Wagen saßen. „Sind die Leute verrückt geworden? Was mag dem Kerl bloß in den Kopf gestiegen sein? Sich am eignen Gardinenhaken aufzuhängen!“
„Ich verstehe deinen Ärger“, sagte ich und öffnete gequält die Augen, „aber wenn du nicht ein bißchen origineller wirst, schlafe ich ein, bevor wir an Ort und Stelle sind. Ich darf überhaupt nicht daran denken, daß ich gestern noch den Kasprowy Wierch runtergerauscht bin. Und jetzt dieses Sauwetter: dicker Nebel, Plusgrade und dazu deine Geistesblitze. Zum Auswachsen!“
„Du bist ja selber schuld“, knurrte Grzywiński. „Du hättest den einen Tag opfern, schon gestern fahren und dich ordentlich ausschlafen sollen. Aber nicht bei diesem Wetter die ganze Nacht auf der spiegelblanken Chaussee liegen!"
„Hast ja recht“, sagte ich und schloß die Augen. „Es klingt jedenfalls sehr vernünftig.“
Ich mußte für einen Moment eingenickt sein. Grzywińskis Stimme weckte mich wieder.
„Da sieh mal, ‚Elpa'. An dieser Leuchtreklame bin ich bestimmt hundertmal vorbeigefahren, ohne mir was dabei zu denken. Entschuldige, daß ich dich störe, aber wir sind so gut wie da.“
Wir hielten vor einem schmalen, modernen Gebäude zwischen alten Mietshäusern, einem hoch aufragenden Lückenbau. Das graue Licht des Märztages verlor sich in den riesigen Scheiben, die silberhelle Fassade war in matten Schimmer getaucht.
„Sag doch selbst, so ein Haus, an so einem Punkt!“ Grzywiński schüttelte den Kopf, während wir im Fahrstuhl standen. „Eine gute Stellung, Titel. Anstatt der Dusche hat er vermutlich ein Füllhorn im Bad. Worin besteht denn sonst – na, gar nicht einmal Glück, lach nicht!, aber wenigstens Zufriedenheit im Leben? Worin, frag' ich dich?“
„Wenn du diesen konkreten Fall meinst“, murmelte ich, „dann werden wir auf eine derartige Frage wahrhaftig zu antworten haben.“
Das Folgende war Routine. Der Einsatztrupp kam kurz nach uns, Fotoapparate klickten, Spuren wurden gesichert, alle Winkel der Wohnung durchsucht. Schließlich brachte man die Leiche hinaus, worauf ich außer Grzywiński und einem Ermittler, der es sich im Vorzimmer bequem machte, alle fortschickte. Jetzt erst war es möglich, sich in der Wohnung umzusehen und über den Mann nachzusinnen, der darin gelebt hatte.
Grzywińskis voreilige Fragen schienen nicht unbegründet. Dozent Doktor Jabczyński, Direktor des Versuchsbetriebs ‚Elpa’, hatte zurückgezogen gelebt, die Einrichtung seiner Wohnung deutete darauf hin, daß er ebenso wohlhabend wie wählerisch gewesen war. Darum hatte er auch nicht in einem Appartement gehaust. Es handelte sich vielmehr um eine normale Zweizimmerwohnung, die mit Druckerzeugnissen, alten Möbeln und Bildern angefüllt war, wobei eine leichte Unordnung herrschte: auf allen verfügbaren Tischen, auf einem Hocker, der jetzt umgestürzt lag, und auf dem Hängeboden im Vorraum waren Bücher und ganze Stöße von meist ausländischen Fachzeitschriften aufgehäuft. Diese Unordnung indes schien nichts anderes anzuzeigen, als daß der Hausherr viel und zu jeder Tageszeit gearbeitet, im übrigen aber seine Wohnung gepflegt und offenkundig sehr gemocht hatte. Inzwischen wurde die Harmonie im Wohnzimmer freilich beeinträchtigt durch eine herabgerissene Gardine und zu Boden gefallene Zeitschriften, doch schon im Arbeitszimmer war man kaum imstande, sich vorzustellen, daß der rechtmäßige Besitzer nicht jeden Augenblick hereinkommen und vor dem begonnenen Manuskript, an dem mächtigen Schreibtisch Platz nehmen würde. Und was für ein Schreibtisch! Er war gewiß gegen Ende des 19. Jahrhunderts für den Inhaber einer bedeutenden Firma gebaut worden; er wurde gekrönt von einer vornehmen filzgefütterten Schreibunterlage und einer schmucken marmornen Statue. Allein das Telefon war Produkt einer anderen, weniger ums Äußere bemühten Epoche.
„Die Haushälterin hat dir einen Kaffee gebrüht, und ich habe nicht widersprochen“, sagte Grzywiński. „Er wird dir guttun.“
„Danke. Wo ist denn die Haushälterin? Hatte sie die Miliz verständigt?“
„Ja. Sie sitzt in der Küche und flennt.“
„Hol sie her und klappre die Nachbarn ab. Wenn du jemanden antriffst, dann lade ihn höflich zu uns ein.“
Die Haushälterin war ungefähr sechzig, klein, rundlich, sie trug eine Brille. Sie trippelte durch das Wohnzimmer und schaute sich scheu nach dem Fenster um, an dem die Gardine fehlte. Ich saß an Jabczyńskis Schreibtisch, blätterte in Papieren und sah das Telefonverzeichnis durch.

Umschlagentwurf Barbara Müller
Übersetzt aus dem Polnischen von Felix Knirek

Verlag Das Neue Berlin, Berlin
Reihe:
Blaulicht, Heft 211
1. Auflage 1981  

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