28 September 2024

Rosemarie Klaus: Der böse Geist des Niagarafalls – Märchen nordamerikanischer Indianer

Buchanfang:
Der böse Geist des Niagarafalls
Hell funkelten die Sterne über Wälder und Blumen, über Hügel und schlafende Felder. Die Winde ruhten aus in den Höhlen der Felsen, und ruhig strömten die Wasser des breiten Flusses dahin. Aus dem Dunkel des Waldes traten ein Jüngling und ein Mädchen ins Freie. Grimmig wie ein Wolf schaute der junge Indianer drein, aber mild wurde sein Blick, als er sich an seine Begleiterin wandte:
„Ruhe nun aus, Anutha, hier sind wir sicher. Deine Sippe hat die Verfolgung aufgegeben. Streck die müden Glieder, indes ich ein Kanu suche, das uns ans andere Ufer zu meinen Stammesbrüdern bringen soll. Dort werde ich für uns ein Haus bauen, und jeder Tag wird neue Freude für uns beide sein.“ Aber das Herz des Mädchens war von bangen Ahnungen erfüllt:
„Laß mich nicht allein, Moscharr! Horch, wie böse das Wasser rauscht!“
„Schließ die Augen und ängstige dich nicht“, beruhigte Moscharr das Mädchen, „bald bin ich wieder bei dir.“ Leichtfüßig eilte er davon, doch Anutha fand keine Ruhe. Ihre Hände bebten vor Furcht, und immer noch flüsterte sie: „Laß mich nicht allein, laß mich nicht allein!“
Aber nicht lange dauerte es, da hörte sie den festen Tritt des Geliebten. Lachenden Auges stand er vor ihr und sagte:
„Ich bin's. Sei frohen Mutes. Am Ufer wartet ein Kanu, das uns schnell und sicher in die Heimat führen wird.“ Befreit von aller Angst sprang Anutha ins Boot, der Jüngling hinterdrein, und ruhig glitten sie stromabwärts.
Aber bald fragte das Mädchen verwundert ihren Begleiter: „Sag, Moscharr, wohin führst du das Kanu? Merkst du nicht, wie die Strömung uns fortreißt?"
„Sei unbesorgt, Anutha, wir treiben ans Ufer.“
Nun drang es wie Donnergrollen an ihr Ohr.
„Moscharr, wohin führst du das Boot? Was wir hören, kann der Donner nicht sein, denn ich sehe keine Wolken am Himmel. Es kann auch die erzürnte Stimme des Großen Geistes nicht sein, denn er ist den Irokesenmädchen freundlich gesinnt.“
„Bleib ruhig, Anutha, die Nacht ist schön, laß uns ein wenig stromab treiben. Ich vermag das Boot jederzeit ans sichere Ufer zu lenken.“
Pfeilschnell glitten sie unter den glitzernden Sternen dahin. „Moscharr, was bedeutet das Tosen und Krachen, das immer näher kommt?“
„Es ist der Sturm, der durch die Wipfel der hohen Bäume braust.“
Immer lauter wird das Donnern und Tosen, immer schneller wird die Fahrt. So treibt das Kanu dem furchtbaren Wasserfall, dem wilden Oniagarah zu. Keine Träne dringt aus den Augen des Mädchens, keine Klage kommt über ihre Lippen. Moscharr ist ja bei ihr. An seiner Seite kann sie der Tod nicht schrecken.
Als aber das Boot an einem Uferfelsen vorüberfliegt, der weit in den Strom hineinragt, stößt Anutha einen gellenden Schrei aus. Denn oben, am Rande des Felsens, sieht sie den Geliebten stehen. Entsetzen verzerrt sein Gesicht. Verzweifelt streckt er die Arme nach ihr aus und ruft ihren Namen. Aber der Strom reißt das Boot mit sich fort. In wilder Angst schaut Anutha auf ihren Begleiter:
„Wer bist du, der du die Gestalt Moscharrs angenommen hast? Was willst du von mir?“
Der andere schweigt, aber in seinen Augen leuchtet es unheimlich auf. Und schon wird das Kanu vom Strudel gepackt, dreht sich wild im Kreis und stürzt dann mit den donnernden Wassern in die Tiefe.
Auf dem Uferfelsen aber steht Moscharr, als wäre er zu Stein erstarrt, und sieht, wie das Boot seinen Blicken entschwindet. Wer war es, der seine Gestalt angenommen und Anutha entführt hat? Nur einer ist solch böser Zauberei fähig! Der gefürchtete Geist des Niagarafalls! Niemals mehr wird Moscharr die Geliebte wiedersehen.

Inhalt:
Der böse Geist des Niagarafalls
       Märchen der Irokesen .......... 5
Die Rache des Sokumapi
       Märchen der Algonkin .......... 12
Die dankbare Steinriesin
       Märchen der Irokesen .......... 18
Die heilenden Wasser
       Märchen der Irokesen .......... 25
Bärenfell und die sieben Brüder
       Märchen der Algonkin .......... 31
Die Geschichte von Kutoyis
       Märchen der Algonkin .......... 38
Algon und das Sternenmädchen
       Märchen der Algonkin .......... 48
Die Menschenschlangen
       Märchen der Dakota .......... 57
Großkopf und die zehn Brüder
       Märchen der Irokesen .......... 64
Mon-da-min, die Gabe Manitus
       Märchen der Algonkin .......... 72
Wie der Biberzauber zu den Algonkin kam
       Märchen der Algonkin .......... 76
Glooskap, der Schöpfer der Welt
       Märchen der Algonkin .......... 85
Sayado und die Donnermänner
       Märchen der Irokesen .......... 94
Die Weidenmänner
       Märchen der Irokesen .......... 102
Schildkröte und das gelbe Büffelkalb
       Märchen der Caddo .......... 112
Napi und der Büffeldieb
       Märchen der Algonkin .......... 120
Biber und Stachelschwein
       Märchen der Athapasken .......... 127
Schwarzfalke und der Wunderrappe
       Märchen der Caddo .......... 135
Das Steinerne Kanu
       Märchen der Athapasken .......... 144
Genetaska, die Hüterin des Friedens
       Märchen der Irokesen .......... 151

Einband und Illustrationen von Günther Lehmann

Alfred Holz Verlag, Berlin
1. Auflage 1960
2. Auflage 1961
3. Auflage 1965
4. Auflage 1973
5. Auflage 1976
6. Auflage 1983



Cover der 1. und 2 Auflage; Illustration: Ruprecht Haller
Cover der 3. Auflage; Illustrationen: Günther Lehmann


Cover der 4. bis 6. Auflage;
Illustrationen: Viera Bombová;
ersch. in der Edition Holz im Kinderbuchverlag

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