08 Oktober 2024

Brigitte Korff: Palast über den Wolken

Buchanfang:
Die anderen schwatzen Ute zu viel durcheinander. Sie steht auf und setzt sich an den leeren Nachbartisch, damit sie in Ruhe zeichnen kann. Denn wann hat sie sonst jemals wieder die Gelegenheit, in einem Flughafenrestaurant zu sitzen, und die schmucken rot-weißen Interflug-Maschinen aus der Nähe betrachten zu können? Natürlich kann sie nicht alle Flugzeuge, die auf dem Rollfeld stehen, zeichnen. Dafür reicht die Zeit nicht aus, denn der Bus, der sie ins Gebirge bringen soll, muß gleich kommen. Deshalb beschränkt sich Ute auf „ihre“ Maschine, die etwas kleinere, blau-weiße tschechoslowakische, die sie und ihre Reisegruppe in einer knappen halben Stunde von Prag nach Poprad geflogen hat.
Ute fängt an. Zuerst zeichnet sie den Rumpf, dann die Tragflächen, das Leitwert und die Gangway das ist die Treppe, die herangerollt wird, damit die Passagiere ein- oder aussteigen können mit ein paar Leuten ihrer Gruppe aus der DDR. Den langen Klaus und die quecksilbrige Katrin, gefolgt von Herrn Langbein und Herrn Schulz, dahinter die Reiseleiterin Fräulein Annerose, die Frau Weidauer stützt, der es schwindlig geworden war. Ganz oben auf der Treppe stellt sich Ute selbst mit dem Rucksack auf dem Rücken und dem Zeichenblock unterm Arm dar.
Ute ist so vertieft in ihre Arbeit, daß sie gar nicht merkt, wie jemand hinter ihr stehen bleibt und ihr beim Zeichnen zuschaut.
Plötzlich nimmt ihr dieser Jemand den Zeichenstift aus der Hand und setzt mit ein paar gekonnten Strichen ein mächtiges Bergmassiv mit einer alle anderen Zacken überragenden gewaltigen Bergspitze in den Hintergrund. Das geschieht so schnell, daß es Ute die Sprache verschlägt. Abwechselnd sieht sie auf ihren Zeichenblock und auf die Landschaft und erstaunt vergleicht sie das eine mit dem anderen. Tatsächlich, hinter dem Flugplatz, noch hinter der von Kornfeldern bestandenen Ebene, hoch über den weißen Schönwetterwolken schimmern jene Berge hervor!
„So, da hast du sie, die Lomnitzer Spitze! Flugzeuge, Mädchen, die kannst du auch zu Hause malen!“
Wer hat das zu ihr gesagt? Es ist die Stimme eines Mannes mit tschechischem Akzent. Ute dreht sich schnell um und blickt in ein Gesicht, das ihr schon in Prag aufgefallen war. Ein schmales wettergebräuntes Antlitz mit einer großen Nase und hellen blauen Augen, die wie Gebirgsseen in einer schroffen Berglandschaft leuchten, umrahmt von einer mächtigen grauen Haarmähne. Es paßt eher zu einem Bergsteiger, als zu einem Städter. Der Mann in dem hellgrauen Anzug war in Prag mit der tschechischen Reisegruppe an Bord der AN-24 gekommen.
„Schau an“, er setzte sich neben Ute und zeigt auf die Bergspitzen, „da hinauf werden wir reisen und in einem Palast wohnen, der über den Wolken liegt.“
„Da ganz hinauf?“ fragt Ute verwundert, denn der Unbekannte hat mit seinem Zeigefinger geradewegs auf die höchste Erhebung den Berg „Lomnický štít“, die Lomnitzer Spitze, gedeutet.
„Nun, nicht ganz so hoch“, räumt er ein, „aber in einem Palast werden wir wohnen. Ich verspreche dir nicht zu viel!“
Er macht ein geheimnisvolles Gesicht, wie ein Märchenerzähler.
Ute aber lacht. Ihr ist eingefallen, was er mit dem „Palast“ wohl meinen könnte.
„Palast Sanatorium“, verbessert sie ihn rasch, denn das weiß sie schon seit einem Vierteljahr, daß sie in der Hohen Tatra in einem Haus mit dem verheißungsvollen Namen „Palast“ ihren lästigen Husten endgültig loswerden soll.
Der Mann gibt seine Märchenerzählermiene auf. Er fragt sie nach ihrem Alter und nach ihrem Namen. Und als Ute ihm den nennt und hinzufügt, daß sie schon elf Jahre ist und bald zwölf wird, macht er eine kleine Verbeugung und stellt sich ebenfalls vor: „Karel Levicky“.
Er behandelt Ute wie eine Erwachsene. Das gefällt ihr. Im Geiste malt sie sich aus, wie Herr Levicky, wenn sie zusammen da oben in dem „Palast“ wohnen werden, sie sogar mit einem Handkuß begrüßen wird. Das machen die Menschen hier so, hat man ihr erzählt.
„Sind Sie Bergsteiger?“ möchte sie wissen.
„Nein.“ Er schüttelt den Kopf.
„Was dann?“
„Rat mal, Prinzessin Naseweis!“
Na so etwas, Prinzessin Naseweis nennt er sie auch schon, ganz wie zu Hause. So ernst, wie sie gedacht hat, scheint er sie nicht zu nehmen. Das ist überhaupt das Merkwürdige an ihm – sie weiß nicht so recht, woran sie bei ihm ist.
Ute soll seinen Beruf erraten. Was könnte er wohl sein? Da fällt ihr Blick auf das Bergmassiv, das er auf ihrem Zeichenblatt skizziert hat.
„Dann sind Sie Maler?“ fragt sie zögernd.
„Erraten!“
„Ein richtiger Maler, der Bilder malt und sie verkauft?“
Ute kann es nicht glauben. Wie lange schon hat sie es sich gewünscht, einmal einem richtigen Maler zu begegnen, um von ihm zu lernen, wie man Farben mischt oder mit Kohle zeichnet. Noch nie hat sie das Glück gehabt, und plötzlich läuft ihr hier in den Bergen der Tatra einer über den Weg.

Illustrationen und Umschlagentwurf von Hans Wiegandt
Für Leser von 10 Jahren an

Gebrüder Knabe Verlag, Weimar
Reihe
: Knabes Jugendbücherei
1. Auflage 1980
2. Auflage 1983 

auch erschienen im
Postreiter-Verlag, Halle
Reihe: Kleine Jugendbücherei
1. Auflage 1986

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