04 Oktober 2024

Ernst Keienburg: Ein Herz für Afrika – Mit Georg Schweinfurth ins Innere des Schwarzen Erdteils

Ich habe Afrika gesehen und habe es noch vor Augen, wie es ist, als das große Haus der Knechtschaft, nicht, wie es sein sollte, als das ungeheuere Gebiet einer freien Mitarbeit an den Gesamtaufgaben der Menschheit. An einem endlichen Siege der guten Sache sowie an der Zukunft des schwarzen Menschengeschlechts werde ich nie zweifeln!
Kairo, 22. März 1878
G. Schweinfurth


Buchanfang:
JUNGES HERZ AUF REISEN
„Georg... Jörg!“ Wo der Junge nur wieder steckt! Mit leisem Seufzen steigt Frau Luise die breiten Stufen des stattlichen Bürgerhauses am Rigaischen Rathausplatz zum 3. Stock empor, wo die Kinder und die Hausgehilfen ihre Räume haben. Feiner säuerlicher Weingeruch, der aus den Tiefen der Kellergewölbe aufsteigt, umfängt sie in dem lichten Treppenhaus. Vorsichtig klinkt Frau Luise das Zimmer ihres Jüngsten auf, des Gymnasiasten Georg Schweinfurth, um den, „kleinen Professor“, wie sie ihn in Gedanken oft nennt, bei seiner Lieblingsbeschäftigung zu überraschen. Denn sicher hockt der Gesuchte wieder in seine Bücher vergraben oder wie verhext über dem altersschwachen Mikroskop, das er sich neuerdings auf Grund verschwiegener Anleihen bei den älteren Geschwistern verschafft hat. Aber das geräumige Zimmer ist leer.
Kopfschüttelnd hält die Mutter von der Schwelle aus Umschau in dem seltsamen Gemach, das eher der Studierstube eines mittelalterlichen Adepten als der, „Bude“ eines Gymnasiasten gleicht. Bündel mit getrockneten Pflanzen hängen an den Wänden; auf dem Schreibtisch am Fenster geben sich Stapel von Büchern, Herbarien, Zeichengerät, ein Totenschädel, ein ausgestopfter Bussard und Einmachgläser mit Wasserpflanzen und Schnecken ein malerisches Stelldichein. In dem großen Terrarium auf dem Hocker sonnt sich eine schwärzlich-grüne Ringelnatter, Georgs letzte Bekanntschaft vom Düna-Ufer. Auch unter dem Bett regt es sich verdächtig: ein Igel kommt aus seinem Lager hervorgetrollt, hebt windend das spitze Schnäuzchen und trinkt schnalzend aus dem Milchschälchen, ehe er wieder in dem dämmrigen Schlupfwinkel verschwindet, wo er den hellen Sonnentag verschläft.
Frau Luise ist all dies Absonderliche nicht fremd. Die närrische Liebe ihres Jüngsten zu allem, was „Natur“ heißt, das Erwachen eines unbeirrbaren und kaum zu beeinflussenden Triebes Ihres Jungen zu allem, was die Erde sprießen und wachsen läßt – sie hat es vom ersten Tage an beobachtet. Ja mehr noch: sie ist seine Vertraute. Er kommt zu ihr und spricht sich aus, ganz ohne Rückhalt wie zu einem Freund, mit dieser ersten, reinen, hingebenden Begeisterung, die etwas Hinreißendes an sich hat. Ein Forscher will er werden eines Tages, in ferne Länder reisen, in seltsame, von Weißen noch nie betretene Himmelsstriche unter dem Äquator – die Wunder ihrer Vegetation, ihrer Tiere, ihrer Rassen und Landschaften wird er entdecken für die Wissenschaft so wie der große Alexander von Humboldt einst ausgezogen ist in die tropischen Urwälder am Orinoco, fünf Jahre lang durch die Wildnisse streifte oder in schmalem Indianerkanu unbekannte Flußläufe befuhr, die von Krokodilen und Stromschnellen wimmelten – wie er in wagemutigem Unternehmen den Chimborazo bezwang, als erster Mensch dieser Erde eine Gipfelhöhe von 5759 m erklomm, eingehüllt in nadelspitze Eiswolken - wie er dann heimkehrte, mit wissenschaftlichen Schätzen beladen und der Forschung gänzlich neue Wege wies! Ein solcher Mann zu werden, eine solche Tat zu vollbringen – wie schön müßte das sein! Es gibt ja noch so viel zu entdecken auf diesem Erdball!
Die Rätsel des Schwarzen Kontinents haben endlich auch die deutsche Forschung auf den Plan gerufen. Wer doch dabei sein könnte! Die „Terra incognita“, das „Unbekannte Land“, hat sich festgesetzt in dem Gehirn dieses Jugendlichen und geistert erregend durch seine Vorstellungswelt. Frau Luise spürt, wie es ihn gepackt hat, wie etwas in ihm aufgerissen ist, wenn er von seiner Zukunft spricht, mit kühnen, schwingenden Bewegungen seiner Arme und der rauhen, hastigen Knabenstimme. Wie groß und ernst seine Augen sind, die sonst so keck und schalkhaft blitzen können.
Frau Luise kann sich ihnen nicht entziehen. Vielleicht ist dies innere nahe Beieinander zwischen Mutter und Sohn deshalb, weil Georg ein Nachzügler ist, das letzte von neun Kindern, die sie geboren vierzehn Jahre nach der ältesten Tochter. Vielleicht aber steckt auch wirklich etwas Außergewöhnliches, Bedeutendes in dem schmächtigen Knaben mit dem buschigen Haarschopf über der eigenwilligen Stirn und der eindeutigen, oft ans Besessene grenzenden Willensbestimmtheit, die zuweilen etwas Beängstigendes hat. Seine reichen Anlagen, die oft nur allzu stürmisch in die Weite der Welt und des Wissens drängen, müssen mit liebender Sorglichkeit geleitet und geordnet werden, wenn der sonst höchst mittelmäßige Schüler, der außerdem eine anfällige Gesundheit hat, sich im Leben als Mensch und Wissenschaftler bewähren soll. Solche Gedanken bewegen unsere Frau Luise, Gattin des angesehenen Weinhändlers Georg Adam Schweinfurth zu Riga am Rathausplatz, während sie an diesem blaugoldenen Sonnentag des Jahres 1850 in dem „Naturalienkabinett“ ihres Sohnes auf dem Bettrand sich ein wenig Erholung gönnt von den mannigfachen Pflichten eines vielköpfigen Geschäftshaushalts. Die Sonne spaziert gemütlich durchs Zimmer und läßt die großen Blüten des Phyllokaktus auf dem Blumenbrett in prangendem Rot aufleuchten. Die ehrwürdige Domkirche meldet mit hallendem Schlag die elfte Tagesstunde; vom Markt her dringt gedämpfter Straßenlärm dieser betriebsamen Hafen- und Handelsstadt herauf in die dämmrige Kühle der Studierklause. Ein rechter Ort zur Sammlung und zum Sinnen.
Frau Luise ist von Hause aus keine grüblerische Natur. Ihr Leben liegt klar und offen vor ihr. Ihr Denken hat den Zug ins Große, doch stets gezügelt von einem praktischen Verstand, einer Lebenstüchtigkeit, die sie von ihren Vorfahren, meisterlichen Handwerkern der Schuhmacherkunst, die aus der brandenburgischen Altmark eingewandert sind, geerbt hat. Ihre selbsterworbene Bildung ist ungewöhnlich. In dem stattlichen, hohen Haus am Rathausplatz, dessen geistigen Mittelpunkt sie bildet, verkehren erlesene Geister, die auf Kunst- oder Vortragsreisen der regsamen Stadt an der Düna, am Treffpunkt zweier Kulturkreise, ihren Besuch abstatten. Ihr Gästebuch verzeichnet große Namen, und so manches Mal fährt Alexander, Georgs älterer Bruder, mit dem lackblitzenden Landauer zum Bahnhof, um irgendeine Weltberühmtheit als Logiergast abzuholen. Da waren Anton Rubinstein, der gefeierte Franz Liszt und später auch Eugen d'Albert sowie der polnische Geigenvirtuose Wieniawski, der die alte und die neue Welt mit seinem Spiel bezauberte, Henri Vieuxtemps, ein König der Konzertsäle vom Schlage Paganinis, und der urdeutsche Gervinus, der gelehrte Verfasser der „Geschichte der deutschen Dichtung“. Alle diese Männer von Künstlerschaft und Können fassen Respekt vor dem geistigen und menschlichen Rang ihrer Gastgeberin.

Inhalt:
Junges Herz auf Reisen .......... 7
Mungo Park, der Stromsucher .......... 23
Der Achte vom Großglockner .......... 31
Reifezeit .......... 38
Männer und Mächte .......... 48
Alfred Brehm Tierfreund am Nil .......... 54
Die „Wissenschaft mit der Dornenkrone“ .......... 62
Traum der Ferne .......... 73
Heinrich Barth der Deutsche, der in Timbuktu war .......... 79
Romantische Nilfahrt .......... 96
Liebe zu einem verfemten Land .......... 105
Wunderwelt des Roten Meeres .......... 112
Auf dem Gipfel der „Geisterburg“ .......... 127
Weiße Paläste schwarzes Elfenbein .......... 138
In den Wildnissen des Südens .......... 146
Über die Schwelle des Unbekannten .......... 169
Abenteuer in Ried und Rohr .......... 175
Der verwunschene Fluß .......... 186
Schwarz und weiß .......... 203
Das hohe Abenteuer .......... 219
Durch das Land der Kannibalen .......... 229
Am Hofe des braunen Cäsar .......... 244
Der Kampf gegen die schwarze Sphinx .......... 258
Nach Jahr und Tag .......... 286
Literaturverzeichnis .......... 297

Schutzumschlag und Einband: Ralf-Jürgen Lehmann

Verlag der Nation, Berlin
1. Auflage 1957 
 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wichtiger Hinweis

Seit dem 25. Mai 2018 gilt auch in Deutschland die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO).

Mit der Abgabe eines Kommentars erklärt Ihr euch einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) eventuell abgespeichert und für Statistiken von Google weiterverarbeitet werden.

Beim Absenden eines Kommentars für weitere Benachrichtigungen auf Folgekommentare erklärt ihr euch ebenfalls einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) abgespeichert werden.