17 Oktober 2024

Hans Schneider: Manhã - das ist zu spät für heute

Buchanfang:
«Du willst weiterleben?»
Diara hörte die Stimme wie aus weiter Ferne. Mit schreckgeweiteten Augen starrte sie auf das trübe Wasser der tief ins Land schneidenden Bucht. Etwa hundert Meter entfernt trieb ein leeres Kanu. Zwischen Boot und Ufer bewegte sich ein rotbrauner Fleck, der sich vom grün schimmernden Wasser deutlich abhob. Er breitete sich aus, wurde von einem Piranhaschwarm durcheinandergequirlt und verblaßte zunehmend: ein Menschendasein, das sich in den Wassermassen des Stromes auflöste!
Das Indiomädchen wehrte den Gedanken ab, daß auch ihr Leben in den nächsten Minuten auf diese Weise verlöschen sollte. Der Mann neben ihr räusperte sich mahnend, weil er noch keine Antwort auf seine Frage erhalten hatte. Aber Diara vermochte jetzt nicht zu reden. Die Stimme versagte, so nickte sie nur zaghaft. «In dem Kanu dort drüben liegt dein Leben. Schwimm hin und hol es dir!»
Diara preßte die Lippen zusammen und biß die Zähne aufeinander, damit kein Laut aus ihrer Kehle kam. Sie haßte diese gleichmäßige Stimme, die ihr den Tod anbot. Sie wußte, daß das, was hier geschah, nach den ungeschriebenen Gesetzen der wilden Indianerstämme Recht war. Aber sie gehörte schon lange nicht mehr zu einem Stamm. Sie war einfach Brasilianerin. Sonst nichts. Irgendwelche Rechte besaß sie dadurch zwar auch, aber die waren für sie jetzt so unerreichbar wie die Sterne am Nachthimmel.
«Nun schwimm schon!»
Ganz ruhig klang die Stimme, als müsse einem wasserscheuen Kind Mut gemacht werden. Auch vorhin, als der dickbäuchige, weiße Händler Antonio dicht am Rand des Wassers stand und nicht hineinwollte, hatte sie so geklungen. Diaras Blick huschte verstohlen nach rechts. Zwölf Indianer, mit Pfeil und Bogen bewaffnet, standen dort und warteten in stoischer Ruhe neben dem Häuptling ab. Was konnte sie gegen diese Männer unternehmen? Sie hatten die Macht, das Urteil zu vollstrecken. Ein Caboclo, der Händler Fernando, war einziger Zeuge des Geschehens. Er hatte sich ebenfalls neben den Häuptling gestellt und verfolgte mit unbewegter Miene den einseitig geführten Dialog. Diara war allein, mutterseelenallein. Wie immer in den letzten fünf Jahren.
Noch zweimal würde der Mann neben ihr in gleicher Tonart sagen: «Nun schwimm schon!» Dann würde es ihr wie Antonio ergehen, falls sie nicht selbst ins Wasser lief: Zwei Indianer würden mit ihren harten Händen nach ihr greifen und sie hineinwerfen. Ein Weilchen würden sie zuschauen, bis das Wasser den Blutflecken aufgezehrt hatte, und sich dann umdrehen  ...
Zwei Ermahnungen lang durfte sie noch leben. Ihr Blick löste sich von dem jetzt undeutlicher gewordenen rotbraunen Fleck, verließ die Bucht und trug ihre Gedanken hinaus auf den zwei bis drei Kilometer breiten Rio Araguaia, hinüber zum anderen Ufer, wo die Galeriewälder des Mato-Virgem in den blaßblauen Himmel ragten. «Nun schwimm schon!»
Diara senkte den Blick, als sie den ersten Schritt tat, doch dann schaute sie zum Kanu und redete sich wider alle Vernunft ein, daß sie es erreichen würde, daß sie auf den Strom hinauspaddeln und nach einigen Stunden drüben am anderen Ufer an irgendeiner Stelle weiter stromab landen würde. Vielleicht sogar in der Nähe eines Indiodorfes oder einer Ansiedlung der Weißen, bei Goldwäschern oder Jägern. Ohne diese Vision, die ihr plötzlich Kraft gab, hätte sie nicht den Fuß ins Wasser gesetzt.
«Parada!»
Das scharfe «Halt!» riß sie zurück, doch als sie sich umschaute, erkannte sie, daß es nicht von dem Häuptling des Indiotrupps gekommen war. Der Caboclo, der Händler Fernando, hatte es ausgerufen, dessen Befehle hier so wenig beachtet wurden wie der Schrei eines Trompetervogels. Betrübt wandte sich Diara wieder ab. Ein Verharren konnte nur vorzeitig das dritte «Nun schwimm schon!» des Häuptlings herausfordern.
«Sie ist doch noch ein Mädchen, Takon!» sagte der Händler zum Häuptling. «Nicht mal doppelt so alt, wie du Finger an den Händen hast.»
«Eben deswegen», antwortete der Indianer in der gleichen Tonlage, wie er vorher Diara aufgefordert hatte, ins Wasser zu gehen. «Eben deswegen!» wiederholte er nachdrücklich, als Fernando ihn erstaunt anblickte. «Sie hätte vor dem dicken Antonio mit seinen vielen kleinen, blutenden Wunden sicherlich heil das Kanu erreicht. Jetzt sind die Piranhas vom Blut berauscht. Sogar ein Kaiman würde einen großen Bogen um diese Stelle schwimmen. Was willst du? Der Tod kommt schneller, als der Tag die Nacht fortschiebt. Ein Indio, gleichgültig, ob Mann oder Frau, der einen anderen Indio bestiehlt oder betrügt, hat kein Recht, dieselbe Luft zu atmen wie wir.»
«Parada!» schrie Fernando noch lauter, da Diara schon mit dem linken Fuß ins knöcheltiefe Wasser trat.
Die dritte Aufforderung: «Nun schwimm schon!» ertönte nicht mehr. Wieder drehte sich Diara um.
Fernando wies auf den Haufen der Waren und Habseligkeiten des Händlers Antonio, die neben den Kanus der Indianer lagen. «Laß das Zeug ins Wasser werfen, Takon!» verlangte er.
Der Häuptling sah ihn ungläubig an, lächelte, als habe Fernando einen schönen Spaß gemacht, dessen Sinn er noch nicht durchschaute, und schüttelte sacht den Kopf. «Der Händler Antonio hat gestern sein Kanu mit Matten, Tonfiguren, Bogen, Pfeilen und Krügen vollgepackt, die wir während der Regenzeit gemacht haben. Heute wollte er alles bezahlen. Dann hat er uns Branntwein gegeben. Als wir wieder bei Sinnen waren, hatten Antonio und diese Indianerin, die du noch Mädchen nennst, das Weite gesucht. Dafür müssen beide bestraft werden. Das Eigentum des Händlers gehört uns.»
«Dann kaufe ich euch die Waren ab, Takon. Zum festgesetzten Preis.»
«Gut, Fernando, wir wissen, daß du dein Wort halten wirst.»
Der Händler starrte noch einen Moment auf das Indiomädchen, dann wandte er sich an den Häuptling. «Hör zu! Sie war auch sein Eigentum, so wie das Kanu, die Messer, der Anzug, die goldenen Ringe. Sie mußte ihm aufs Wort gehorchen, sonst hätte er sie windelweich geprügelt. Warum wollt ihr dieses, sein Eigentum, von den Piranhas auffressen lassen?»
«Was sollen wir mit ihr?»
«Auch an mich verkaufen.»
Der Häuptling musterte den Händler eine Weile. Es gelang ihm nicht, seine Verwunderung zu unterdrücken.

Schutzumschlag und Einband: Wolfgang Freitag

Militärverlag der DDR, Berlin
1. Auflage 1979
2. Auflage 1981
3. Auflage 1988

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