Heftanfang:
Den schmalen Grat zwischen immerwährendem Vergessen und Aufnahme in die Geschichte vermag nur solches Geschehen zu überwinden, das zur rechten Zeit seinen Chronisten findet. Was aber, wenn in dessen Bericht unübersehbare Lücken klaffen wie weiße Flecken auf einer Landkarte? Dann muß unsere Phantasie die leer gebliebenen Blätter mit Leben füllen, Leben, das einer einzigen Forderung genügen muß: So hätte es sein können ...
An diesem Novembernachmittag lag über der Stadt Rom ein wolkenlos blauer Himmel. Die wärmenden Strahlen der Herbstsonne spielten in den Zweigen kahl gewordener Bäume, verloren sich im Gerank immergrüner Zypressen und Pinien und glitzerten erneut auf über dem Kuppeldach der Basilika von Sankt Peter. Aber hinab bis zu dem Gewirr aus Höfen und Gängen zwischen den vatikanischen Palästen reichten sie nicht.
In einer der steinernen Schluchten lief Kardinal Sanseverina mit weit ausholenden Schritten zum Inquisitionsgericht ein alltäglicher Weg, seit er kürzlich das Amt des Anklägers vor dem Tribunal übertragen bekommen hatte. Der Saum seines langen purpurroten Gewandes streifte die Erde.
Nur noch wenige Wochen, und der endlose Winterregen würde sich über Rom ausschütten, der ewige Regen über der Ewigen Stadt. Tief atmete der Kardinal die milde Luft ein, trat dann durch die breite Tür in das schmucklose Gebäude, nickte im Vorbeigehen flüchtig dem Hellebardier der Schweizergarde zu, der hier, bekleidet mit Pluderhosen, Streifenwams und Brustpanzer, Dienst tat. Der Posten stand stramm, bis das Dunkel des Korridors Sanseverina aufgenommen hatte.
Im Sitzungssaal hob sich der Purpur der bereits anwesenden Kardinäle kräftig leuchtend ab von den schwarzen, grauen und braunen Kutten der Patres. Als hätten alle nur auf sein Kommen gewartet, verstummte beim Eintreten Sanseverinas das Rascheln von Buchseiten und Dokumenten. Grußlos setzte er sich.
Nur der Schreiber tauchte noch einmal den Federkiel in das Tintenfaß, schob dann die Protokollbögen vor sich zurecht und überschrieb umständlich kratzend die erste Seite: Sitzung des Heiligen Amtes der Inquisition in Sachen des Ketzerprozesses gegen den früheren Dominikanermönch Giordano Bruno aus Nola. Im Vatikan, Rom, am 10. November des Jahres 1599.
Mit Illustrationen von Karl Fischer
Verlag Neues Leben, Berlin
Reihe: Das neue Abenteuer Nr. 406
1. Auflage 1980
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