Buchanfang:
„Munoo, hallo Munoo-o, he Mundu!“ rief Gujri von der Veranda einer flachen, strohbedeckten kleinen Lehmhütte, die abgeschieden am Fuße eines Berges stand, etwa hundert Meter vom Dorfe im Tal entfernt. Mit ihrem Adlerblick durchforschte sie den goldgleißenden Pfad, der sich unter der unbarmherzigen Glut der Sonne Kangras seinen Lauf im Zickzack durch das struppige Buschwerk bahnte.
„Munoo, hallo Munoo-o, he Mundu!“ rief sie noch einmal mit schriller, mißtönender Stimme. « Bist du taub? Wo treibst du dich herum, du Unglücksbengel! Komm zurück! Dein Onkel will gehen, und du sollst mit ihm in die Stadt!“
Ihr alles durchdringender Blick streifte über das Mangowäldchen zu dem silbernen Band des Flusses Beas und durchforschte verdrießlich das grüne Meer von Farnkräutern, Unkraut und Gebüschen, das sich zu beiden Ufern des Stromes bis zu den purpurglänzenden, nicht allzu hohen Bergen erstreckte.
„Munoo, hallo Munoo-o!“ wiederholte sie aufgebracht und verstärkte diesmal ihre Stimme bis zum Äußersten, dessen sie in ihrer Wut und Verärgerung fähig war: „Bist du taub? Wo steckst du, du unglückbringender Waisenknabe? Komm zurück – und dann fort mit dir!“
Ihr schneidender Sopran hallte durch das Tal, erreichte Munoo und erfüllte ihn ganz mit dem Schrecken, der sich mit diesen Worten verband. Wohl hatte er gehört, antwortete aber nicht. Er lugte nur hinter dem Baum hervor, in dessen Schatten er sich verborgen hielt, und sah Gujri in der Hütte verschwinden.
Munoo hatte an den Ufern des Beas das Vieh gehütet und eben zu spielen begonnen. Die Büffel und die Kühe, die seiner Obhut anvertraut waren, hatten sich in dem seichten Sumpfwasser wiederkäuend hingestreckt und genossen mit Behagen die Kühle, die ihnen das Wasser gegen die sengende Hitze der Morgensonne bot.
„Deine Tante ruft dich“, sagte der sauber gewaschene und gut gekleidete Jay Singh, Sohn des Gutsherrn, und stieß mit seinem Ellenbogen in Munoos nackte Rippen. „Hörst du sie nicht? Hast du denn gar kein Benehmen, du Barbar, daß du deiner Tante nicht antwortest und sie rufen läßt, bis sie sich heiser geschrien hat?“ Er war Munoos Rivale im Kampf um die Führerschaft über Bishan und Bishambar und andere Dorfjungen. Er wußte, daß Munoo in die Stadt ziehen mußte, und wollte ihn so schnell wie nur möglich los sein.
„Geh noch nicht“, überredete ihn der dicke Bishan, „deine Tante will dich nur als Laufbursche ausnutzen!“ Dann wandte er sich hänselnd zu Jay Singh und sagte:
„Du nennst ihn Barbar, weil er nicht nach Hause geht, wenn ihn seine Tante ruft. Was bist du denn? Du beschimpfst sogar deine Mutter, wenn sie dich auffordert, zu Hause zu bleiben und in der Mittagsglut nicht hinauszugehen. Du willst nicht einmal in die Schule gehen, obgleich dir dein Vater täglich zwei Annas Taschengeld gibt! Wir gehen in die Schule! Und an schulfreien Tagen hüten wir obendrein das Vieh. Was tust du denn hier, frage ich dich? Nichts als faulenzen! Du hast nicht einmal den Mut, ein paar Mangos zu stehlen. Diese hier hat alle Munoo gebracht, also laß ihn doch ein paar auslutschen, bevor er nach Hause geht.“
„Ich stehle keine Mangos“, antwortete Jay Singh, „ich kaufe sie!“ Und zu seiner Rechtfertigung fuhr er fort: „Ich habe nur gesagt, er soll nach Hause gehen, weil seine Tante so grob ist und uns ausschimpfen wird, wenn wir ihn zurückhalten. Er muß doch mit seinem Onkel in die Stadt.“
„Ist es wahr, daß du in die Stadt ziehst?“ fragte der kleine Bishambar ungestüm.
„Ja, ich muß noch heute früh fort von hier“, gab Munoo zur Antwort, und ein Schauer lief ihm dabei über den Rücken.
„Aber du bist doch erst vierzehn Jahre alt! Und du bist erst in der fünften Klasse!“ rief Bishambar aus.
„Meine Tante will, daß ich anfange Geld zu verdienen“, erwiderte Munoo. „Sie möchte einen leiblichen Sohn. Mein Onkel meint, ich wäre groß genug, um für mich selbst zu sorgen. Er hat Arbeit für mich im Hause eines Babu der Bank in Shampur gefunden, in der er selbst beschäftigt ist.“
„Es muß fein sein, in Shampur leben zu können“, bemerkte Jay Singh, der jetzt eifersüchtig auf das Ansehen war, das Munoo in seinen Augen gewann, weil er in der Stadt wohnen würde, wo es so wunderbare Dinge zu essen, wunderschöne Kleider und wundersame Spielsachen gab.
Munoo lächelte. Aber sein Lächeln schien zu sagen: Wäre es nicht mein letzter Tag hier, versetzte ich dir einen solchen Kinnhaken, daß du niemals mehr danach trachten würdest, Anführer der Jungen zu werden. Obwohl Munoo noch jung war, fühlte er, in welchem Maße Jay Singhs Vater das ihm nahende Unglück verschuldet hatte.
Titel der englischen Originalausgabe: COOLIE
Ins Deutsche übertragen von Erika Ziha und Otto Tomschik
Schutzumschlag: Ilse Englberger
Verlag Neues Leben, Berlin
1. Auflage 1953 [1.-30. Tsd.]
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Wichtiger Hinweis
Seit dem 25. Mai 2018 gilt auch in Deutschland die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO).
Mit der Abgabe eines Kommentars erklärt Ihr euch einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) eventuell abgespeichert und für Statistiken von Google weiterverarbeitet werden.
Beim Absenden eines Kommentars für weitere Benachrichtigungen auf Folgekommentare erklärt ihr euch ebenfalls einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) abgespeichert werden.