21 März 2025

Wolfgang Breu: Die Buchstabenkiste

Buchanfang:
Es war längst still geworden im Spielzeugschrank. Der Mond stand ruhig inmitten seiner Schäfchenwolken am Himmel und blinzelte in das Kinderzimmer. Als er Ralf und Petra artig schlafen sah, wollte er gerade schmunzelnd weiterziehen, da blieb einer seiner Strahlen an der Schranktür hängen.
Hatte da nicht etwas geraschelt?
Der Mond kam so nahe wie möglich an das Fenster und lauschte; die Puppen und Teddybären waren ruhig, und selbst die Bausteine rückten und rührten sich nicht.
Nur hinten in der Ecke in einem Karton, da rumorte es noch. Da klappte auch schon der Deckel hoch, und ein kleiner Gummibuchstabe sprang heraus. „Geschafft!“ atmete er auf und wollte gerade den Deckel leise schließen, als es noch einmal plumpste.
„Hi, hi“, kicherte es aus der Ecke. „Dachtest du etwa, wir haben nichts bemerkt?“
„Man läuft doch nicht einfach weg“, kam es von der anderen Seite, „und dann noch mitten in der Nacht!“
Es war nicht genau zu sehen, ob das kleine ‚a’ rot wurde, weil man es entdeckt hatte, aber nun war es einmal passiert, und da gab es kein Zurück. Es mußte wohl oder übel erzählen, was es vorhatte, wenn es nicht in den Verdacht geraten wollte, sich heimlich aus dem Druckkasten wegzustehlen.
Der hängengebliebene Mondstrahl malte einen hellen Punkt in das Schrankfach. Dort setzten sie sich zusammen, und das kleine ‚a' gestand seinen Brüdern: „Ihr wißt doch alle, daß Ralf und Petra gern Bücher lesen. Und weil sie uns immer so lieb behandelt haben, wollte ich ihnen eins drucken...“ Die anderen Buchstaben sahen sich verblüfft an.
„Sieh mal einer an!“ Das war alles, was das ‚e’ herausbrachte.
„Und ganz allein?“
„Ohne uns etwas zu sagen?“
„Wie hast du dir das gedacht?“
Alles redete plötzlich durcheinander.
Da schlug es elfmal von der Rathausuhr, und der Mond bekam einen mächtigen Schreck. Beinahe hätte er vergessen weiterzuziehen. mit einem kurzen Ruck riß er seinen in der Schranktür eingeklemmten Strahl los und schwebte davon.
Er war wohl dabei ein bißchen laut gewesen, denn plötzlich hob sich der Deckel des Druckkastens wieder und ein ‚O’ sprang heraus.
„Hier seid ihr also“, rief es böse den erschrockenen Buchstaben zu.
„Wollt ihr wohl sofort zurück in die Kiste!“
„Aber das ‚a’ wollte ein Buch drucken“, entschuldigten sich die kleinen Ausreißer.
„Ein Buch?“ fragte das ‚O’ und ließ sich die Geschichte erzählen. Hin und wieder schüttelte es mit dem Kopf.
„Ich habe schon eine ganze Menge erlebt, aber daß ein einzelner Buchstabe ein ganzes Buch druckt? Nein, das hat es noch nicht gegeben.“
„Wenn ich aber Ralf und Petra eine Freude machen will?“ entschuldigte sich das ,a'.
„Ja, das ist schon etwas Schönes“, meinte das ‚O’, „doch dann müssen wir schon alle mitmachen.“
„Hurra!“ freute sich das ‚a’ und die anderen stimmten in das Geschrei mit ein. „Gleich morgen fangen wir an!“

Illustrationen und Umschlagentwurf von Dagmar Schwintowsky
Für Leser von 8 Jahren an

Gebrüder Knabe Verlag, Weimar
Reihe:
Knabes Jugendbücherei
1. Auflage 1973
2. Auflage 1975
3. Auflage 1978
4. Auflage 1981
5. Auflage 1984

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wichtiger Hinweis

Seit dem 25. Mai 2018 gilt auch in Deutschland die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO).

Mit der Abgabe eines Kommentars erklärt Ihr euch einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) eventuell abgespeichert und für Statistiken von Google weiterverarbeitet werden.

Beim Absenden eines Kommentars für weitere Benachrichtigungen auf Folgekommentare erklärt ihr euch ebenfalls einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) abgespeichert werden.