07 April 2025

A. Schachow: Auf Rentierpfaden – Eine Expedition in die Tundra

Auszug aus dem Buch:
... Einige Jahre später Bis zum Krieg war ich auf Reisen. Erst im Winter des Jahres 1946 traf ich Jewgeni Nikolajewitsch in Moskau am Iljinsker Tor wieder. Ich erkannte den großen Mann in dem kurzen Rentierpelz nicht gleich. Unter der Kalbfellmütze hervor sah er mich mit seinem einen Auge aufmerksam an, über dem anderen Auge trug er eine schwarze Binde. „Erkennen Sie mich wirklich nicht mehr ?“ fragte er mich erstaunt. „Ich kann mich nicht so recht erinnern.“ „Das ist schlecht... Dann bin ich also gealtert und sehe anders aus. Ja, sehen Sie, einen Bart habe ich mir wachsen lassen, und ein Auge habe ich im Krieg verloren. Die Jahre vergehen und verändern die Menschen, aber selbst gewöhnt man sich so daran, daß man nichts davon merkt. Sie erkennen mich also nicht? Dabei haben wir doch gemeinsam die Tundra durchstreift.“ „Jewgeni Nikolajewitsch?“ „Jawohl. In höchsteigener Person.“ Wir drückten uns gegenseitig kräftig die Hände. Nach den ersten oberflächlichen gegenseitigen Fragen gingen wir die Kirowstraße entlang. Jewgeni Nikolajewitsch erzählte, daß er ebenfalls kein Sitzfleisch habe und nach wie vor in den Norden verliebt sei. Nach unserer gemeinsamen Reise war er noch auf Nowaja Semlja, in den Niederungen des Jenissei, meldete sich dann freiwillig zur Front, wo er zweimal verwundet wurde. Hier unterbrach ich ihn: „Ja, wie haben Sie es denn fertiggebracht, sich von unseren nördlichen Weiten zu trennen?“ „Ich mußte sie doch verteidigen“, antwortete Jewgeni Nikolajewitsch einfach. „Deshalb mußte ich eine ungewöhnliche Reise machen. Mit der Kampftruppe kam ich von Murmansk bis Berlin.“ „Leben Sie jetzt in Moskau?“ fragte ich ihn. „Ich bin erst vor zwei Tagen aus Salechard zurückgekehrt.“ „Sie waren wieder in Salechard?“ Ich staunte. „Wie schaut es denn dort aus? Wahrscheinlich hat sich die Stadt sehr verändert? Da geht es hoch her?“ „Haha! Das kann man wohl von Moskau sagen, aber nicht von Salechard. Hier fährt ein Auto hinter dem anderen, ununterbrochen. Ein ewiger Lärm! Und ein ewiger Benzingeruch! Und wie sich die Menschen drängen! Jeder beeilt sich und hastet. Ich liebe es, wenn in den Menschen das Blut brodelt. Wie ungewöhnlich ist das alles nach Salechard. Sie wissen doch selbst: Wenn man in der Tundra einem Menschen begegnet, dann ist das ein großes Ereignis, an das man sich das ganze Leben lang erinnert. Aber hier bemerken die Menschen einander nicht, wie man in der Tundra die Schneehühner nicht bemerkt, weil es so viele gibt. Aber schön ist Moskau doch I Es beschwingt den Menschen, treibt ihn an. Es ist nicht wie in Salechard, wo jeder sich gehen läßt. Und doch entwickelt sich das Leben im Kreise Jamalo-Nenezk, allerdings im stillen, ohne Lärm. Das liegt dort an der Art der Arbeit? Fischfang, Rentierzucht, Jagd ? das sind doch ruhige Gewerbe, keine Industrien. Sobald irgendwo eine Fabrik steht, dann verkündet sie das sofort über die ganze Gegend durch Sirenengeheul. In Salechard gibt es nur das Fischkonserven-Kombinat, da ist auch richtiger Lärm. Tatsächlich, da geht es hoch her. Das Kombinat ist noch größer geworden. Heute liefert es bereits mehrere Millionen Büchsen Fischkonserven im Jahr.“ Ich lief neben ihm her und hatte ganz vergessen, daß ich nach einer anderen Richtung gehen wollte. Ich glaube, Jewgeni Nikolajewitsch ging ebenfalls ohne bestimmtes Ziel über die Kirowstraße. Dieser „schweigsame“ Mensch erzählte auf einmal ohne aufzuhören. „Übrigens lärmt auch noch das Sägewerk. Es liefert nach wie vor den Bedarf für den Fischereibetrieb und das Konserven-Kombinat. Eine Sirene gibt es auch in der Schiffswerft, die damals noch eine Schiffsreparaturwerkstatt war. Der Kreis besitzt zwölf Fabriken, die Fisch verarbeiten. Besonders bekannt ist die in Aksarka. Natürlich sind die Fischfänge auch ertragreicher geworden. Im letzten Jahr hatte man hundertfünfzigtausend Zentner aus dem Wasser geholt. Der Ob ist sehr fischreich! In der Hauptsache werden Maränen gefangen, seltener sind die Zarten, Störe und Lachsforellen. Wundern Sie sich nicht darüber, daß ich so gut über das Leben des Kreises orientiert bin! Vor kurzem wurde in Salechard das fünfzehnjährige Bestehen des Kreises Jamalo-Nenezk gefeiert, und ich hörte mir die Vorträge der Organisationen des Kreises an.“ .......

Zeichnungen von Erich Gürtzig
Übersetzung aus dem Russischen von Franz Schüler
Titel der Originalausgabe: „По оленьим тропам"
Für Leser von 13 Jahren an

Der Kinderbuchverlag, Berlin
1. Auflage 1953 (1.- 15. Tsd.)
2. Auflage 1953 (16.-25. Tsd.)
3. Auflage 1954 (26.-35. Tsd.)
 

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