Einbandtext:
Swjetow griff zum Fernglas und blickte hinüber. Dort, wo der Bahndamm in den Wald mündete, gewahrte er mehrere Dächer von Eisenbahnwaggons. Sehen aus wie Mäuserücken, dachte er. Er schraubte am Feldstecher herum. Kein Zweifel: ein stillstehender Eisenbahnzug. Swjetow ließ einen Stoßtrupp bilden, nahm Feldwebel Sascha mit, seinen Starschina, und lief mit den Männern zum Wald hinüber auf die Gleise zu.
Da stand der Zug mit zerschossener Lokomotive. Waggontüren und Fenster aufgerissen, die Wagen leer. Die Männer entsicherten die Gewehre. Auf ein Zeichen vom Hauptmann kletterten sie in die Waggons...
Heftanfang:
Er hatte es sich ganz anders vorgestellt, dieses Land, dessen Sprache er so beflissen gelernt, von dessen Gedichten und Liedern er viele auswendig kannte. Kein schöner Land in dieser Zeit...
Nein, das Land hier, das er jetzt mit eigenen Augen sah, war da wohl nicht gemeint. In der Phantasie eines Studenten der Universität Odessa hatte die deutsche Literatur ein ganz anderes Bild zusammengeflunkert, als die Wirklichkeit jetzt darbot. Er wischte die Gedanken schnell weg. Sie waren so unstimmig, trübselig und kompliziert und schwer zu ertragen. Und außerdem, der Frühling war heftig wie lange nicht. Ein Himmel von freiestem Blau, als hätten Bomben und Granaten alle Wolken fortkatapultiert, auf daß der Mai besser glänze.
Hauptmann Swjetow ließ die kleine Truppe halten und absitzen. Die Männer waren durchgeschüttelt, durchgestaucht in ihren Fahrzeugen, die den Granatlöchern auf der Straße selten nur ausweichen konnten. Jetzt vertraten sie sich die Beine, schlugen das Wasser ab, warfen sich müde auf die Böschung des Straßengrabens und dösten. Auf den hügeligen Feldern lagen hier und da noch Kissen von Schnee.
Swjetow steckte sich eine Papirossa an. Er spürte wieder Schmerzen im Bein. Seine Verwundung hatte eine offene Stelle hinterlassen, die immer wieder näßte und, abgeklemmt im Stiefelschaft, nicht recht heilen wollte. Sein Gesicht war spitz geworden. Das dunkelblonde Haar trug er bürstenartig geschnitten. Jedermann aber blickte ihm fasziniert auf den Mund, der die Worte der drei Sprachen, die er beherrschte, mit weichem Wohllaut formte. Swjetow paffte leer vor sich hin. Erinnerung schwamm hoch. Er dachte plötzlich an Kolja, seinen kleinen Bruder. Wie der ihm nachgewinkt hatte damals, als der Zug aus dem Bahnhof rollte... Zwölf war er gewesen und hinter seinen Brombeeraugen saß der Schalk. Wo er sie nur herhatte, die dunklen Augen; vielleicht von der Großmutter. Das waren ihre Augen. Und er sah wieder ihr festes, sensibles, erstaunliches Gesicht. Auch die Großmutter erschossen. So mir nichts, dir nichts. Einfach so, weil die beiden, fest umklammert in ihrer Angst, gerade so dagestanden hatten... Swjetow spürte ein Würgen im Hals. Der Wald steht schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar...
Das Lied mit seinen weichen Bildern verschwamm, und vor ihm stand der wirkliche Wald, der in der Ferne von einem Bahndamm durchschnitten wurde. Einen Wald hatte er im Krieg mit militärischen Augen zu sehen gelernt. Nur selten noch stieg Poesie aus dieser grünen Blätterwelt. Angst und Ungewißheit hatten längst jeden Gedanken an Poesie verdrängt. Und der das Gedicht geschrieben hatte, gehörte er wirklich demselben Volk an wie die mit dem Totenkopf über der Nase?
Swjetow atmete schwer. Die Zeit ging nicht zurück. Wie wenig war er doch gewappnet vor innerer Verwundung! Er wischte gewaltsam die Erinnerung beiseite, griff zum Fernglas und blickte hinüber.
Dort, wo der Bahndamm in den Wald mündete, gewahrte er mehrere Dächer von Eisenbahnwaggons. Sehen aus wie Mäuserücken, dachte er. Er schraubte am Feldstecher herum. Kein Zweifel: ein stillstehender Eisenbahnzug. Swjetow ließ einen Stoßtrupp bilden, nahm Feldwebel Sascha mit, seinen Starschina, und lief mit den Männern zum Wald hinüber auf die Gleise zu.
Da stand der Zug mit zerschossener Lokomotive. Waggontüren und Fenster aufgerissen, die Wagen leer. Die Männer entsicherten die Gewehre. Auf ein Zeichen vom Hauptmann kletterten sie in die Waggons. Alles leer. Mann und Maus auf und davon. Die Abteile ein Schlachtfeld. Sitze und Fenster zerstört und zerschlagen, Tornister und Gepäckbündel zerwühlt und zerfleddert, zerlumpte Uniformreste, Mützen, Schiffchen, Gewehre mit leeren Magazinen, Packen und Bündel und Krempel, wohin man trat. Die Männer warfen alles hinaus. Swjetow nahm sich die Gepäcknetze vor, Als er gerade einen Packen zum Fenster hinausbefördern wollte, spürte er plötzlich eine seltsame Wärme in den Händen.
„Hier, halt mal!“ Er drückte dem Starschina das Paket in den Arm und durchsuchte abermals das obere Netz.
Sascha spürte ebenfalls die Wärme und ließ vor Schreck beinahe das Bündel fallen. „Doch nicht möglich, Kapitan, nicht möglich!“
„Festhalten!“ rief Swjetow scharf. Selten nur hörte man aus seinem Munde einen so schneidenden Befehlston. „Laß die andern weitermachen!“ Er kletterte auf der gegenüberliegenden Seite aus dem Waggon. Suchte mit dem Glas die Gegend ab.
„Verdufte, Mensch!“ hörte er plötzlich neben sich. „Überall Russen hier! Wenn die dich kriegen, biste dran. Deine falschen Klamotten da“ – gemeint war Swjetows Uniform –, „die nutzen dann auch nischt mehr!“ Die Stimme kam hinter einem Busch hervor und gehörte einem Jungen, der einen zerbeulten Wassereimer zwischen den Knien hielt. „Und dort“, er zeigte mit dem Daumen nach hinten in Richtung der Waggons, „nur Tote drin. Die andern alle abgehauen.“
„Gib mal den Eimer her!“ Swjetow in seinem tadellosen Deutsch sagte es wie beiläufig, stellte den Eimer neben sich ins Gras und schaufelte sich das Wasser ins Gesicht. Er prustete wild.
Unter dem Eisenbahnzug krochen jetzt die übrigen Männer hervor, Maschinenpistolen im Anschlag. Der Starschina mit dem Bündel im Arm blieb an der Böschung stehen. Der Eimer ging reihum.
Der Junge hinter dem Busch hatte sich wie der Blitz niedergeduckt, schmiegte sich an seine Schwester, die ängstlich im Busch kauerte, und starrte entgeistert durch das Gestrüpp.
Swjetow packte Sascha am Arm und wies auf den Busch. „Hierbleiben!“ befahl er auf russisch. Sascha setzte sich neben den Strauch, legte das Bündel ins Gras, pflanzte die Maschinenpistole auf, holte Zigaretten heraus und stieß Rauchkringel in die Luft. Er schmauchte genüßlich und hielt belustigt die Zigaretten durch die Zweige, grinste den Jungen an. Der wandte sich erschrocken ab. Das Mädchen verbarg sein Gesicht im Armel.
Swjetow war indessen mit den Männern in den Zug zurückgeklettert. Sie warfen hinaus, was sie noch fanden. Ein Lappen kam durch die Luft geflogen. Sascha fing ihn geschickt, umwickelte die Füße mit der unverhofften Errungenschaft und fuhr mit Bedacht in die Schäfter zurück. Der Junge und das Mädchen hinter den Ästen saßen da wie angefroren, beobachteten jeden Handgriff. Als unmittelbar neben ihnen eine Mütze im Gebüsch niederging, konnte sich der Junge nicht beherrschen. Er griff danach und stülpte sie sich auf den Schädel. Das schwarze Ungetüm mit dem Totenkopf rutschte ihm über die Ohren. Er zwinkerte mit den Augen, blies die Backen auf und erhob mit stummer Gebärde zu seiner Schwester hin den Arm zum deutschen Gruß. Das Mädchen zog eine Grimasse.
Swjetow war zum Starschina zurückgekehrt. Die Männer verhandelten miteinander etwas, was der Junge nicht verstehen konnte, und wurden sich anscheinend nicht einig. „He!“ rief Swjetow zum Busch hinüber. „Komm 'raus!“
Der Junge blickte ratlos die Schwester an. Doch ehe er sie etwas fragen konnte, gab sie ihm einen Schubs. Er kullerte unversehens die Böschung hinunter. Swjetow mußte lachen und hielt ihm das Bündel entgegen. „Halten!“ befahl er.
Der Junge stolperte die Böschung hinauf. Swjętow legte ihm das Paket in den Arm. Er blickte in ein Knabengesicht von bitter verschlossenem Ausdruck. Dabei sah er die Mütze auf dessen Kopf, die auf häßlich abstehenden Ohren saß. Er nahm sie ihm sachte ab und schleuderte sie in hohem Bogen den Bahndamm hinunter. „Die steht dir nicht!“ Der Junge stand reglos vor ihm. Die Haarsträhnen hingen ihm ins Gesicht. Die Schwester kroch ängstlich unter dem Strauch hervor und klammerte sich an den Bruder, die Augen bald auf Swjetow, bald auf das Bündel gerichtet.
„'s ja warm!“ rief der Junge plötzlich und unterzog das zusammengewickelte Etwas einem furchtsamen Studium.
„'n Windelscheißer!“ schrie das Mädchen fassungslos. Kindliche Freude bewegte sein ganzes Gesicht.
Illustrationen Jürgen Wagner
Militärverlag der DDR, Berlin
Reihe: Erzählerreihe 294
1. Auflage 1986
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