Einbandtext:
Ich will kein Mitleid, sagt Reggi, den die Folgen eines Motorradunfalls an den Rollstuhl fesseln. Und als er Karen kennenlernt, glaubt er nicht daran, daß sie einen wie ihn lieben kann.
Buchanfang:
Morgen muß ich die „Burg“ verlassen. Morgen, das ist am Ende dieser letzten Nacht hier drinnen. Ich habe Angst davor. Was erwartet mich draußen?
Ich sollte längst im Bett sein, mich ausruhen, Kraft sammeln für das, was morgen beginnt. Aber ich bin ans Fenster gefahren, habe den Vorhang zur Seite gezogen und blicke auf den „Burghof“ hinunter, wo im Ententeich der Mond badet, und wo ich die Eingänge zu den Werkstätten erkennen kann. Im dicken, von Efeu überwucherten Mauerwerk der Hauswand wirken sie wie Schlupflöcher, in denen man sich verbergen kann.
Die Burg ist ein Schlupfwinkel für mich gewesen, zwei Jahre konnte ich mich hier verkriechen. Jetzt muß ich hinaus. Begebe ich mich in Gefahr?
Ich habe Angst, besonders vor Brückstedt, wo mir alles seit meiner Kindheit vertraut ist. Als Gesunder habe ich unsere Siedlung damals verlassen; als Krüppel kehre ich zurück. Was erwartet mich dort? Fremdheit? Mitleid?
Ich will kein Mitleid!
Eine gewisse Gabi macht sich in unserem Brückstedt ein schönes Leben; wenn ich die Augen schließe, sehe ich deutlich, was sie tut: Sie reitet. Fährt nicht mehr Motorrad wie einst mit mir, sondern reitet. So habe ich es im Traum erlebt, und so erscheint sie mir seitdem, wenn ich die Augen schließe. Oder sie tanzt. Wirbelt in einem weiten weißen Rock auf grünen Wiesen umher, läuft einem, der in engen Jeans steckt und kein Hemd trägt, direkt in die Arme. Die Köpfe ganz aneinander, flüstern dann beide: Armer Reggi, armer Reggi.
Ich reiße die Augen auf und möchte die Finger in die Ohren stopfen. Hört auf, will ich am liebsten rufen, hört auf mit eurem Mitleid.
Der Traum verfolgt mich überallhin.
Von mir, dem Krüppel, hat sie sich losgesagt, mich gibt es einfach nicht mehr, für sie bin ich so gut wie tot. Manchmal frage ich mich, warum ich damals nicht tatsächlich .... Wieviel wäre mir dann erspart geblieben.
Ich will Gabi nicht wieder begegnen, würde sie mit meinem Rollstuhl einfach umfahren. Es sei denn, sie kommt wie in meinen Angstträumen wirklich auf einem Pferd. Oder sie flüchtet auf eine Treppe. Wahrscheinlich würde ich jedoch im letzten Augenblick davor zurückschrecken, weil ich zu feige bin. Wie ich zu feige war, mir etwas anzutun.
Unten im Saal feiern die anderen Abschied. Weil sich der Saal im Seitenflügel befindet und hell erleuchtet ist, kann ich von meinem Platz am Fenster die Schatten sehen; gespenstisch sieht es aus, was sie tanzen nennen. Die einen stelzen auf ihren Prothesen, andere drehen steif den ganzen Körper, weil sie ihre Wirbelsäule nicht verrenken dürfen. Aber sie stehen auf Füßen. Ich werde mein Leben lang im Rollstuhl sitzen. Leben... Ist es wert, so genannt zu werden, was mir geblieben ist?
Ich stoße die Tür zum Balkon auf. Die Schwelle ist längst entfernt worden, so daß ich mit meinem Rollstuhl ohne Schwierigkeit hinauskomme. Draußen werden jedoch Hunderte Schwellen sein, die meinen Weg versperren.
Die Nacht ist warm. Ich kenne solche Nächte; und wenn Gabi jetzt draußen ist oder am Fenster steht, müßte sie an unsere Sommernächte am Kiesschacht denken. Oder hat sie sich mit diesem Brief auch von ihren Erinnerungen losgesagt, sich selbst verstümmelt, indem sie einfach ein Stück aus sich herausriß, weil es ihr unbequem geworden war?
Lieber Reggi, es fällt mir nicht leicht, Dir diesen Brief zu schreiben, glaub mir bitte. In Gedanken hab ich ihn schon oft formuliert, aber erst heute kann ich mich aufraffen, Dir endlich zu sagen, was mich schon längere Zeit beschäftigt: Du und ich, Reggi, das geht nicht zusammen. Versteh mich. Ich habe mir selbst vorgetäuscht, Dich zu lieben, jetzt weiß ich es besser. Das hat mit Deinem Unfall nichts zu tun. Du bist stark, Reggi, und wirst es überstehen. Alles Gute für Dich. Gabi
Ich habe diesen Brief zerrissen. Dann wollte ich ihn wieder zusammensetzen und auf ein Stück Papier kleben, weil ich plötzlich glaubte, irgend etwas, ein Postskriptum vielleicht, übersehen zu haben. ......
Illustrationen von Gudrun Olthoff
Verlag Neues Leben, Berlin
Reihe: Neue Edition für junge Leute
1. Auflage 1984
2. Auflage 1986
3. Auflage 1989
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