10 August 2025

Ursula Ullrich: Am Abend sind die Schatten lang

Es kommt vor, daß Menschen einander nicht ihr wirkliches Leben erzählen, sondern Geschichten, mit denen sie es besser zu ertragen glauben. Die Menschen in diesen sechs Erzählungen lernten, ihr Leben so zu sehen, wie es eben ist. Sie lernten, mit Problemen zu Rande zu kommen, Auswege aus der Ausweglosigkeit zu finden, scheinbar Unannehmbares anzunehmen.

Ursula Ullrich, 1932 in Dresden geboren, erzählt Lebensgeschichten einfühlsam und mit einem feinen Sinn für Humor; sie wirbt um Verständnis für menschliche Eigenheiten und Verletzbarkeiten. Sie beschreibt, wie diejenigen, die heute fast ausnahmslos im achten Lebensjahrzehnt stehen, gelebt haben, oft viel zu gehorsam und schicksalergeben, jedoch mit einem untrüglichen Gefühl für Menschenwürde. Sie erzählt von Konflikten zwischen den Generationen, aber auch vom achtungsvollen Umgang zwischen Alten und Jungen; sie entdeckt Ungewöhnliches in alltäglichen Lebensläufen, und sie beschönigt die Bitterkeit mancher Erfahrung nicht, auch nicht die Leere, die der Tod hinterläßt. Dennoch sehen nicht alle Menschen, um die es in den Erzählungen geht, das Leben nur von seinem Ende her. Neben den Verzagenden gibt es die Mutigen. Mut gehört zum Wandeln von Lebensansichten, und Mut gehört auch dazu, mit über siebzig Jahren noch eine Ehe zu schließen, wie es in der Titelerzählung geschieht


Buchbeginn

Das Gespann

Hermann sitzt am Küchentisch und liest die Zeitung. Vor dreißig Jahren hat er sie noch weit von sich strecken müssen und gefürchtet, daß seine Arme eines Tages nicht mehr ausreichen könnten, die verschwimmenden Buchstaben in den Schärfebereich zu rücken. Jetzt wundert er sich, wie gut er sehen kann, wenn er das Blatt dicht vor die Augen hält. Hermann liest die Zeitung gründlich und fängt auch nicht von hinten zu lesen an, dort, wo die Lokalnachrichten stehen. Bloß einen einzigen Blick wirft er auf die letzte Seite. Wenn er einen bekannten Namen in einem der schwarzgerandeten Felder entdeckt, schüttelt er halb bedauernd, halb mißbilligend den Kopf und ruft seiner am Herd hantierenden Frau zu: "Hulda, denk ner, 's in widder aanergestorbn, dr Römersch Franz. Naanaa, wer hätt dös gedacht, aß der siech emol sue bezeiten drrahmachen tutt!"

Union Verlag Berlin
1. Auflage 1987
ISBN: 3372000919 

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