Buchanfang:
Königin im Leinenkleid
Ein Märchen aus Vietnam
Auf einer kleinen Insel oberhalb des Mekong-Deltas lebte vor langer Zeit der Fischer Ha-Thi-Trinh mit seiner Familie. Er war bitter arm wie alle Inselbewohner und war doch einer der fleißigsten. Lange bevor der erste Sonnenstrahl seinen hellen Finger auf das graue Meer legte, machte er mit seinem unverheirateten Bruder und seinem Sohn das Boot fertig, um mit den anderen Fischern zum Fang auszufahren. Hatte es lohnende Beute gegeben, segelten sie zum Festland hinüber und verkauften die Fische. Doch meistens war ihre Mühe vergeblich, und der Erlös lohnte nicht den weiten Weg.
„Die Sonne steht schon hoch, wir haben am frühen Morgen bei unseren Fischern gekauft“, sagten die Frauen der Stadt. Die Inselfischer verdroß es, daß die Fischer vom Festland ihnen immer zuvorkamen, doch konnten sie daran nichts ändern.
Ha-Thi-Trinhs Frau war im letzten Jahr gestorben. Das harte Klima und die schwere Arbeit auf dem steinigen Boden der Insel hatten ihre Kräfte vorzeitig erschöpft.
Oft blickte Ha-Thi-Trinh auf seine Tochter Ha-Tien, die mit ihren sechzehn Jahren das ganze Ebenbild der Mutter war. Würde sie dem Plan zustimmen, den er seit langem erwog?
Tages sprach er zu ihr: „Höre, meine Taube, ich will mit deinem Bruder Pham-Dong und unserem Oheim fortfahren, um Land zu suchen, auf dem wir als Bauern leben können, ohne zu hungern. Der Fischfang, den wir seit Jahren betreiben, hat uns immer ärmer gemacht. Noch habe ich Kraft in den Armen und könnte ein neues Leben beginnen. Hier ist ein großer Sack Reis, er reicht für einige Monate. Mit dem, was unser Garten einbringt, wird er dich ernähren, bis ich komme, um dich zu holen.“
„Und was wird aus mir, wenn du nicht zurückkehrst?“ fragte das Mädchen erschrocken.
„Ich komme bestimmt wieder!“ gab der Vater zuversichtlich zur Antwort. „Und unsere Nachbarn werden dir helfen.“
Doch entschlossen sprach Ha-Tien: „Nehmt mich gleich mit. Zwei Hände mehr können auf dem Boot nicht schaden. Und kommt ein Unglück über uns, so trifft es uns gemeinsam. Ich habe der Mutter vor ihrem Tode versprochen, dich nicht zu verlassen, bitte zwinge mich nicht, mein Wort zu brechen.“
Der Vater beugte sich schließlich ihrem Willen. Er veräußerte, was er an Hausrat besaß und nicht auf dem Sampan unterbringen konnte, verabschiedete sich von Freunden und Bekannten und begab sich mit seinem Bruder und seinen beiden Kindern auf die Reise in eine ungewisse Ferne.
Sie segelten an der Küste entlang immer nach Süden. Tage, Wochen, Monate vergingen. Endlich erreichten sie die Südspitze des Landes und beschlossen, einen Hafen aufzusuchen, um sich nach Siedlerland zu erkundigen. Doch bevor sie ihre Absicht verwirklichen konnten, packte der Sturm das nicht allzu große Boot und trieb es weit ins Meer hinaus. Genauso plötzlich drehte der Wind, fuhr in das Großsegel und schob den Sampan mit rasender Geschwindigkeit in eine breite Bucht. Mit letzter Kraft zogen sie das Boot auf den Schwemmsand des Ufers und legten sich erschöpft zur Ruhe.
Am nächsten Morgen weckte heller Sonnenschein Ha-Thi-Trinh und seine Angehörigen. Sie meinten, im Paradies gelandet zu sein. Vor ihnen breitete sich ein liebliches Land, sanft stieg es zu beiden Seiten der Bucht an, während aus fernen, hohen Bergen ein Wildbach herabstürzte und sich seitlich eines Bambuswaldes ins Meer ergoß. Das Ufer war mit dem Holz gestrandeter Schiffe bedeckt, das sammelten sie und besahen sich dabei die hügelige Landschaft. Zwischen zahlreichen Bäumen und Sträuchern lagen einige Hütten verstreut, doch kein Mensch, kein Tier war zu erblicken. Beim Anstieg entdeckten sie einen Bananenbaum mit einem reifen Fruchtbüschel. Nie vorher hatten die Geschwister so einen Baum gesehen und nur selten eine reife Banane genossen. Voller Glück aßen sie sich satt und begannen dann, aus dem herumliegenden Holz und den überall wachsenden Bambusrohren in der Nähe ihres Sampans eine Unterkunft zu bauen. Der Fischer blickte voller Sorge auf die fernen Berge, ob nicht Bewaffnete kämen und ihnen den Verbleib auf diesem Boden verwehrten. Doch nichts geschah. Eine Woche verging, eine zweite, niemand zeigte sich.
Eines Tages – sie hatten sich in ihrer kleinen Hütte schon häuslich eingerichtet und saßen gerade bei einem gebratenen Süßwasserfisch, den Pham-Dong, der Sohn des Fischers, geangelt hatte – hörten sie eine zarte Musik näher kommen. Ein weißhaariger Berghirt, gefolgt von zwei Ziegen, stieg flöteblasend zu Tal und blieb verwundert vor ihrer Behausung stehen. Er verneigte sich tief und hieß sie in dieser Gegend willkommen. Von ihm erfuhren die Weitgereisten, daß hier noch vor dreißig Jahren Siedler gelebt hatten, Handwerker aus einem weiter nördlich gelegenen Lande.
„Doch es gab in dieser Einöde für ihre kunstvollen Arbeiten keine Käufer“, erzählte der Alte. „Also bauten sie sich ein Schiff und segelten in die große Stadt im Osten. Keiner ist zurückgekehrt.“
„So haben sie in der Stadt ihr Glück gefunden?“ fragte Pham-Dong, und seine Augen begannen zu leuchten.
Der Hirt zuckte die Schultern.
„Man erzählte, sie hätten goldene Götterstatuen aus ihrer Heimat mitgebracht. Mit ihnen sind sie dorthin gefahren.“ Seine Hand wies in die Richtung, aus der das Fischerboot gekommen war. Und da er in dem Gesicht des Jünglings den heißen Wunsch erkannte, Abenteuer zu erleben, legte er Pham-Dong bedächtig die Hand auf den Arm und sprach: „Mein Sohn, das Glück kann man überall finden, wenn man die Augen offenhält. ......“
Inhalt:
5 .. .. .. Königin im Leinenkleid
Ilse Korn
17 .. .. .. Chusnobod, die keinen Reichen zum Mann wollte
Ilse Korn
31 .. .. .. Sieben Söhne und sieben Töchter
Ilse Korn
41 .. .. .. Das Federkleid
Ilse Korn
47 .. .. .. Ein Vogel - weiß wie Mondsilber
Ilse Korn
57 .. .. .. Die schöne und kluge Farischtamoch
Nach einer Übersetzung aus dem Russischen von Margarete Spady
70 .. .. .. Der Fleißige ist auch klug
Ilse Korn
77 .. .. .. Slawa (Auszug)
Vladimir Colin
Aus dem Rumänischen von Alfred Margul-Sperber
86 .. .. .. Der Mann, der das Haus beschicken sollte
Peter Christen Asbjörnsen und Jörgen Moe
Aus dem Norwegischen von Friedrich Bresemann
89 .. .. .. Wie die Indianergroßmutter den Hunger bannte
Ilse Korn
95 .. .. .. Eine tüchtige Frau
Nach einer Übersetzung aus dem Russischen von Margarete Spady
101 .. .. .. Das Binsenmädchen
Ilse Korn
107 .. .. .. Das singende, springende Löweneckerchen
Brüder Grimm
114 .. .. .. Wassilissa und das Püppchen
Karnauchowa
Aus dem Russischen von Hans Bruschwitz
123 .. .. .. Anaſt
Ilse Korn
134 .. .. .. Das kluge Mädchen aus den Bergen
Božena Němcová
Aus dem Tschechischen von Günther Jarosch
141 .. .. .. Die mutige Häuptlingstochter
Ilse Korn
148 .. .. .. Die Kluge
Aus dem Russischen von Lisa Ossig
153 .. .. .. Vom Mädchen, das nur einen Klugen heiraten wollte
Ilse Korn
159 .. .. .. Die kühne Tulganoi
Nach einer Übersetzung aus dem Russischen von Margarete Spady
166 .. .. .. Wie Katenge das Feuer gewann
Ilse Korn
172 .. .. .. Das Mädchen und der Löwe
Mohamed Dib
Aus dem Französischen von Hildegard Müller und Josef-Hermann Sauter
175 .. .. .. Das Glockengespenst
Ilse Korn
178 .. .. .. Die vertriebenen Gäste
Willi Meinck
182 .. .. .. Der Lastträger und der Hodscha
Nacherzählt von Lieselotte Remané
188 .. .. .. Fin MacCumhail und der Riese Far Rua
Ilse Korn
195 .. .. .. Katica der Schelm
Ilse Korn
205 .. .. .. Der Tabak
Ulrich Jahn
207 .. .. .. Die tanzenden Teufel
Käthe Altwallstädt
213 .. .. .. Der Rumpelschmied und der Teufel
Ilse Korn
216 .. .. .. Sieben Leuchter auf einem Katzenschwanz
Ilse Korn
225 .. .. .. Die neun Mönche
Zlata Černá/Miroslav Novák
Aus dem Tschechischen von Ingrid Kondrková
232 .. .. .. Die Geschichte von Schehrezad, die tausend Märchen erzählen konnte
Ilse Korn
238 .. .. .. Die Geschichte von den zwei neidischen Schwestern
Ilse Korn
261 .. .. .. Nachwort
Ilse Korn
265 .. .. .. Worterklärungen
267 .. .. .. Nachdruckvermerk
Illustrationen von Bernhard Nast
Für Leser von 10 Jahren an
Der Kinderbuchverlag, Berlin
Leinen mit Schutzumschlag
1. Auflage 1977
2. Auflage 1981
Hardcover
1. Auflage d. Ausg. 1982
2. Auflage d. Ausg. 1986



