15 Januar 2021

Maja Ganina: Im Sternbild der Zwillinge


 Krankheit stößt "normale" Wertmaßstäbe um, stellt bisher Gültiges in Frage. Diese Erfahrung, so banal wie wahr, hätte der Kunsthistorikerin Wera noch bis vor kurzem allenfalls ein überlegenes Lächeln entlockt. Nun macht sie sie buchstäblich am eigenen Leib. In einer Herzklinik wartet sie auf ihr Urteil: den ärztlichen Befund. Die knappe Zeitspanne wird ihr, der Beherrschten und Starken, zur Ewigkeit zwischen Hoffnung und elementarer Angst. Der Unzulänglichkeit des eigenen Körpers ausgeliefert und ringsum von Krankheit umgeben, die selbst Jugend und Schönheit nicht verschont, wird sie zunehmender unsicherer. Hat sie recht daran getan, dem Verstand im menschlichen Dasein den Vorrang zu geben? Kann sie, falls sich der schreckliche Verdacht auf eine bösartige Geschwulst bestätigt, ein erfülltes Leben beschließen? Viele Jahre hat sie in Indien verbracht und sich ausschließlich ihren Kunststudien gewidmet, sogar die einzige Liebe hat sie ihrem Hochmut und elitären Anspruch geopfert. Wera ist ratlos, und unter dem übergroßen Leidensdruck entwickelt sie erstmals Verständnis für ihre Mitmenschen. Doch da wendet sich alles zum Guten: Sie wird die Klinik als geheilt verlassen. Mitnehmen wird sie das Wissen um eigene Ohnmacht und fremden Schmerz...

Die russ. Schriftstellerin Maja Ganina (*1927) scheint bei uns recht unbekannt zu sein. Sie arbeitete als Technologin u studierte gleichzeitig am Literaturinstitut "Maxim Gorki". Sie reiste durch die Sowjetunion zu Großbaustellen in Sibirien und im Fernen Osten und besuchte Indien. Nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichte sie in literarischen Zeitschriften. 

Beginn
Mir hatte etwas geträumt: Lang zog es sich hin, ein herrliches Grün, noch immer wogte es vor meinen Augen, als ich sie aufschlug und blicklos die Zimmerdecke abtastete. Ein grünlicher Himmel, Wolkenstreifen im letzten Sonnenlicht, davor die grünen rauhen Wipfel der Toddypalmen: Indien oder Ceylon.
"Lebt Alka noch?" fragte Anja vom Nebenbett laut.
Anja senkte ihre Stimme nicht, obwohl es erst sieben war und alle versuchten, noch rasch etwas Schlaf aufzuholen: Es war eine schlechte Nacht gewesen. In unserem Zimmer war Anja der schwerste Fall: Mitralfehler, Aortenstenose, dazu noch eine absolute Arrhythmie. Sie lag oft und lange hier, deshalb fühlte sie sich als Hausherrin...

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1. Auflage 1977
Edition Neue Texte
Aus dem Russischen übersetzt von Brigitta Schröder.
Mit einer Nachbemerkung von Herbert Krempien.

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