01 Juni 2023

Thomas Nicolaou: Nachts kamen die Barbaren

Athen im Frühjahr 1967, Sommerliche Wärme. In den Vorgärten des Cafés sitzen viele, die mehr Zeit haben, als ihnen lieb ist: Arbeitslose. Einer ihrer Nachbarn ist der Geschichtsstudent Micis Gorcas. Er trägt einen Exmatrikulationsbescheid in der Tasche, weil er Freunden bei der Herstellung von Flugblättern geholfen hat. Micis Gorcas wartet, doch er weiß nicht auf was. Im Café am Boulevard begegnet Micis dem Mädchen Artemis, das ihn nach der eigenartigen Doppelexistenz fragt, die er führt. Micis muß sich entscheiden. Und so, wie er die Gegenwart genauer sehen lernt, prüft er die Vergangenheit. Die große Verhaftungswelle des Militärputsches vom April 1967 erfaßt auch ihn und Artemis. Micis verzichtet auf die bequeme Hilfe des reichen Großvaters. Mit Hunderten anderer wird er zur KZ-Insel Yura transportiert. Scheinwerfer erhellen die Nacht, als die Gefangenen vom Schiff durch das offene Meer an Land getrieben werden. Micis gehört zu denen, die in der Brandung der Insel Yura bestehen.

Der Autor
Thomas Nicolaou wurde 1937 in einem thessalischen Bergdorf geboren und kam in den fünfziger Jahren als politischer Emigrant in die DDR. Dieser erste Roman von Nicolaou in deutscher Sprache zeigt ihn als einfallsreichen Fabulierer und genauen Chronisten, dem es erzählerisch eindrucksvoll gelingt, seine Leser am griechischen Schicksal zu beteiligen.

Buchanfang
»Gestatten?«
Sie nickte nur leicht, und ich wußte, es war sonderbar, daß ich mich gerade an diesen Tisch setzte. Hier saß sie, allein, und es hätte sich gehört, woanders Platz zu nehmen. Es war jedoch der einzige Tisch, der im Schatten der Akazie stand, und ich hatte keine Lust hineinzugehen, hier brachte ein schwacher Nordwind ein wenig Kühlung.
Also hier würde ich auf Dhimos warten. Vielleicht kommt er gar nicht, ging es mir durch den Kopf. Warum sollte er auch kommen? Heutzutage war jeder froh, wenn er selbst Arbeit hatte. Es wäre Unsinn, die zwei Kilometer vom Hafen bis zu dieser Taverne am Bahnhof bei Hitze und Staub zurückzulegen, um eventuell nur mit den Schultern zu zucken.
Das Mädchen war ein bißchen rot geworden, es mußte jedoch nicht meine Anwesenheit sein, die es zum Erröten brachte, ebenso konnte es der heiße Kaffee tun. Sie schlürfte den Kaffee nicht mit einem geräuschvollen Ziehen, wie es allgemein üblich war, nein, sie spitzte die Lippen und nippte dran, und dabei hob sie das Gesicht ein wenig zum Himmel. Diese Bewegung brachte ihren schlanken Hals noch mehr zur Geltung, und beim Heben des Kopfes legten sich die langen Wimpern wie schmale Schilfblätter über ihre Augen.
Es geschah etwas, was ich schon oft beobachtet hatte, wenn ich einem Menschen gegenübersaß, mit dem ich gern ein paar Worte gewechselt hätte. Die Zunge war der Überlegung voraus, und wie jetzt sagte ich dann etwas, was nicht von Bedeutung, ja manchmal dumm war. 

Schutzumschlag: Heinz Handschick

Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)
 
1. Auflage 1968
2. Auflage 1968 (Berechtigte Ausgabe im Buchclub 65)
3. Auflage 1969

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wichtiger Hinweis

Seit dem 25. Mai 2018 gilt auch in Deutschland die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO).

Mit der Abgabe eines Kommentars erklärt Ihr euch einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) eventuell abgespeichert und für Statistiken von Google weiterverarbeitet werden.

Beim Absenden eines Kommentars für weitere Benachrichtigungen auf Folgekommentare erklärt ihr euch ebenfalls einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) abgespeichert werden.