26 Februar 2024

Witali Bianki: Der Einzelgänger

Buchanfang:
Auf dem Großen Seeweg
„Verehrter Bürger!
Heute, am 17. April 19., gebe ich einer Wildgans von der Art der Bleßgänse die Freiheit wieder.
Diesen Vogel erwarb ich im Herbst des vergangenen Jahres durch einen Zufall in Leningrad auf der Straße. Ein Jäger hatte ihn auf dem Markt feilgeboten. Wie er sagte, hatte er die Bleßgans einige Tage zuvor an der Küste des Finnischen Meerbusens in der Nähe von Lomonossow gefangen. Der Vogel hatte sich mit den Füßen in einem Fischernetz verfangen. Den Winter verbrachte die Wildgans auf meinem Hof in Witebsk. Sie war bald ganz zahm geworden und ließ sich von meinem Sohn sogar den Rücken streicheln, wenn er ihr das Futter brachte.
Im Frühjahr jedoch wurde sie unruhig. Sie zerrte an der Schnur, mit der sie festgebunden war, biß danach und schlug mit den Flügeln, woraus leicht zu entnehmen war, daß es sie in die Freiheit zog. Mein Sohn und ich beschlossen, sie freizulassen. Wir hatten jedoch unsere an die Weite gewöhnte Gefangene ins Herz geschlossen. Es fiel uns schwer, uns von ihr zu trennen und glauben zu müssen, nie wieder etwas von ihr zu hören. Deshalb besorgte ich vom Moskauer Ornithologischen Institut einen Aluminiumring der Serie S, Nr. 109. Diesen Ring befestigten wir am Fuß des Vogels.
Wenn jemand unsere Wildgans einfängt, an ihrem Fuß den Ring bemerkt und dies dem Ornithologischen Komitee meldet, so teilen Sie mir doch bitte freundlicherweise nach Witebsk mit, wohin sie geflogen ist und unter welchen Umständen sie gefangen wurde."
Der Schreiber dieser Zeilen unterschrieb den Brief, setzte seine Anschrift darunter und tat den Bogen in einen Umschlag mit der Adresse des Moskauer Ornithologischen Komitees. Dann stand er vom Tisch auf und ging zur Tür. „Mischka!“ rief er seinen Sohn. „Komm, wir lassen jetzt die Wildgans frei.“

Die Wildgans lag vor der Hundehütte und zerrte mit dem Schnabel wütend an der an ihrem Fuß befestigten Schnur. Als sie die beiden sich nähernden Menschen bemerkte, ließ sie sogleich von dieser Beschäftigung ab und richtete sich hocherhobenen Kopfes zur vollen Größe auf. Jetzt wirkte sie so groß wie eine Hausgans, obwohl sie in Wirklichkeit viel kleiner war. Man sah auf den ersten Blick, daß dies ein in freier Wildbahn lebender Vogel war. Sein Gefieder lag so glatt und schön an, wie man es bei Hausgeflügel niemals findet. Die Gans war ein stattliches Tier von kräftigem Wuchs mit vorgewölbter Brust und einem biegsamen Hals. Ihre kurzen, breit auseinanderstehenden Füße stemmten sich fest gegen den Boden. Auf der Stirn leuchtete ein halbmondförmiger, strahlendweißer Fleck.
Als der Vater und Mischka zu ihr traten, wich sie fauchend vor ihnen zurück. Die Schnur spannte sich, und nun konnte sie nicht mehr weiter. Mit einem Ruck kippte die Wildgans vornüber und stieß mit dem Kopf gegen die Erde.
Diesen Augenblick machte sich Mischas Vater zunutze. Mit festem Griff packte er den Vogel bei den Flügeln und nahm ihn auf. „Mach die Schnur los“, sagte er zu Mischa. Während sich Mischa mit dem festgeknüpften Knoten abplagte, suchte die Wildgans mit aller Kraft, sich loszureißen. Der Vater hatte Mühe, sie festzuhalten.
„Und jetzt, Mischka“, sagte er, als die Schnur endlich zu Boden gefallen war, „nimm Abschied und wünsch ihr eine glückliche Reise!“
Mischa wollte den Vogel streicheln. Er streckte die Hand aus, doch im gleichen Augenblick zog er sie zurück. Die Wildgans fauchte ihn drohend an. Er hatte nicht die geringste Lust, sich von ihr einen Schnabelhieb versetzen zu lassen. Schon einmal hatte er erfahren, wie angenehm das war, und volle zwei Wochen hatte ein blauer Fleck sein Bein geziert.
„Na, Freundchen, traust dich wohl nicht?“ schmunzelte der Vater. „Keine Angst, ich halt ihr den Hals fest. Und du nimmst aus meiner rechten Tasche den Ring und die Flachzange.“ Mischa befolgte die Anordnung.
„So“, fuhr der Vater fort, „nun bieg den Ring auf und streif ihn dem Wildfang über den Fuß. Fertig? Kneif jetzt seine Enden mit der Zange zusammen. So! Und wenn sie jetzt jemandem in die Hände fallen sollte, so werden wir von ihr hören.“
„Wer's glaubt wird selig...“, murmelte Mischa zweifelnd.
„Wie? Was sagst du da? Siehst du denn nicht die Anschrift und die Nummer auf dem Ring? Sollte einer unsere Gans einfangen, wird er die Nummer ihres Rings unter dieser Anschrift dem Ornithologischen Komitee melden. Ich wiederum hab an das Komitee geschrieben und gebeten, uns zu benachrichtigen, wo die Gans gefangen wurde. Verstanden?“
„Verstanden schon“, maulte Mischa, aber es ist doch nicht sehr wahrscheinlich, daß sie noch einmal eingefangen wird.“
„Kann man das wissen? So, und jetzt laß ich sie frei“, sagte der Vater. „Mir tun die Arme schon weh.“ Er warf den Vogel in die Luft. Die Wildgans schlug mit den Flügeln ......

Inhalt:
5 Auf dem Großen Seeweg
59 Der Einzelgänger
147 Ziesel
157 Dshulbars
165 Arschaks Geheimnis
177 Die Explosivgeschosse des Professors Gorlinko
191 Sie
209 Das Seeteufelchen
219 Ummb
237 Nachwort

Herausgegeben von Prof. Dr. Nadeshda Ludwig
Übersetzung aus dem Russischen von Corinna und Gottfried Wojtek

Illustrationen von Renate Göritz

Der Kinderbuchverlag, Berlin
1. Auflage 1970

auch erschiene im

Verlag Kultur und Fortschritt
Kleine Jugendreihe
Heft 13; 1959 – 63 S.
1. Auflage 1959

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