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Immer diese Ruhestörer – Marina füttert fremde Katzen und schmiert dem Bruder keine Stulle
Die Stadt, in der sich diese Geschichte zuträgt, gehört zu jenen Städten, die auf dem Atlas nicht viel größer als ein Schreibmaschinenpunkt sind. In Wirklichkeit besitzt sie jedoch ein paar weithin sichtbare Industrieschlote, drei Straßenbahnlinien und einundzwanzigtausend Einwohner; Familie Brückmann mit einbegriffen.
Brückmanns wohnen in der Steinmetzstraße 24, einer schmalen Nebenstraße, in der die Häuser gewissermaßen auf Tuchfühlung stehen. Sie besitzen dort eine Vierzimmerwohnung, zwei Treppen hoch über der Erde.
Leider, sagen die übrigen Mieter des Hauses, leider! Nichts gegen Herrn oder Frau Brückmann, das sind fleißige, hochanständige Leute. Aber ihre Kinder, ogottegott, so was Lautes, Ungestümes und Rücksichtsloses gibt es nur einmal. Die brauchen glattweg ein Haus für sich. Am besten eines mit schalldichten Wänden.
Wenn es sich um die vier jungen Brückmanns handelt, sind sich die Hausbewohner einig. Von Herrn Megerlein, dem Hausvertrauensmann, bis zu Frau Butterberg, die Schauspielerin im Stadttheater ist und in ihrer Zweizimmerwohnung im dritten Stock beim Rollenstudium Ruhe benötigt. Heute erst recht, denn Evelyn Butterberg muß morgen für eine erkrankte Kollegin einspringen und deren Rolle spielen. Evelyn Butterberg hat eine junge Frau darzustellen. Keine Kleinigkeit, wenn man die Vierzig bereits überschritten hat und unentwegt gegen Runzeln und Fältchen ankämpfen muß. Sie vertieft sich in den Text. spricht den großen Monolog – zweiter Akt, erste Szene – halblaut vor sich hin. „Oh, diese Stille, diese gnadenlose Einsamkeit. Wie mein Herz sich quält, wie es sich sehnt nach einem einzigen menschlichen Laut. Ich muß dieser schweigenden Nacht entfliehen. Ich ertrage es nicht länger...“ Evelyn Butterberg preßt die Hände an die Schläfen. Aus dem zweiten Stock ertönt Grammophonmusik, Schlagergedudel. „Heut zieh ich mir das Grüne an und fahr mit dir ins Grüne dann...“ Es ist achtzehn Uhr fünf, Katrin trällert mit. Katrin Brückmann ist siebzehneinhalb Jahre alt. Tagsüber lernt sie im HO-Warenhaus, „Freundschaft“, wie man Schaufenster einräumt. Katrin ist Dekorationslehrling. Sobald sie nachmittags heimkehrt, setzt sie das Koffergrammophon in Bewegung. Musik muß sein. Schallplatten, Schlager und Jazz sind ihr Hobby, ganz abgesehen von schicken Kleidern, Pullis und Einsteckkrägelchen, für die sie außerdem schwärmt. „Heut zieh ich mir das Grüne an und fahr mit dir ins Grüne dann...“ Im gesamten Haus ist es zu hören, Katrin hat das Fenster ihres Zimmers sperrangelweit geöffnet. Der Mensch braucht Sauerstoff, frische Luft ist gesund. Noch dazu im Mai. Frau Butterberg springt auf. Dieser Krach, dieses scheußliche Grammophon, unmöglich, sich dabei auch nur ein einziges Wort der Theaterrolle einzuprägen. Sie reißt das Fenster auf, beugt sich weit hinaus. Das platinblonde Haar fällt ihr ins Gesicht. „Ruhe da unten“, schreit sie. „Ruhe. Das Gedudel ist ja widerlich. Jeden Nachmittag die gleiche Rücksichtslosigkeit. Unerhört, so was!“
Katrin läßt sich nicht stören. Die Butterberg soll sich bloß nicht so haben, denkt sie, so eine großartige Künstlerin ist die bei weitem nicht ... Sie legt eine neue Platte auf. Den „Feuerwerkerdixie“, extra für Frau Butterberg. Ganz große Nummer. Mit Klarinetten-, Trompeten- und Schlagzeugsolo.
Frau Butterberg überlegt, ob sie die Polizei herbeiholen soll. Aber sie verwirft diesen Gedanken gleich wieder. Ich darf mich nicht ablenken lassen, ich muß lernen, lernen ... Evelyn Butterberg zieht die Fenstervorhänge zu, in die Ohren stopft sie sich Watte. Noch einmal der Monolog. „Oh, diese Stille, diese gnadenlose Einsamkeit. Wie mein Herz sich quält, wie es sich sehnt nach einem einzigen menschlichen Laut ...“
Wumm! Unten im Treppenhaus knallt die schwere Haustür ins Schloß. Es ist achtzehn Uhr zehn geworden. Immer, wenn Peter Brückmann um diese Zeit aus dem Kindergarten kommt, kündigt sich so sein Erscheinen an. Peter ist vier Jahre alt, ein stupsnasiger, dunkelblonder Quirl. Ungestüm poltert er die Treppe hinauf. Peter singt dabei. Nicht ohne Stolz, er hat im Kindergarten heute wieder ein neues Lied gelernt:
„Ich bin ein kleiner Kosmonaut und suche eine tapfre Braut, die mich begleitet – lieb und klug – bei meinem nächsten Weltraumflug.“
Länger ist das Lied nicht. Peter wird nicht müde, die vier Zeilen mit wachsender Lautstärke zu wiederholen. Es ist herrlich, beim Treppensteigen zu singen und dabei mit den Stiefeln den Takt zu stampfen. Ich bin ein kleiner Kosmonaut, bum, bum, bumm ... Oben, im zweiten Stock, wird Peter in Empfang genommen. Nicht von seiner großen Schwester, die hat keine Zeit, die muß sich ihren Schallplatten widmen. Frau Kowalsky, ........
Illustrationen und Umschlagentwurf von Horst Hausotte
Gebrüder Knabe Verlag, Weimar
Reihe: Knabes Jugendbücherei
1. Auflage 1962
2. Auflage 1964
3. Auflage 1974
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