16 August 2025

Hans Fallada: Mäuseken Wackelohr

Die Geschichte vom »Mäuseken Wackelohr«, eine kleine Liebesgeschichte, hat Gerhard Lahr wunderbar zart illustriert. Mäuseken Wackelohr ist bis über beide Ohren verliebt in den hübschen Mäuserich. Aber wie an ihn rankommen, wo er doch oben auf dem Dach in Freiheit lebt und Mäuseken im Haus eingesperrt ist? Die gefräßige Ameise weiß Rat, aber ist ihr zu trauen? Und was ist mit der bösen Katze, die ihr nach dem Leben trachtet? Eine kleine Fabel über falsche und richtige Freunde sowie die unaufhaltsame Macht der Liebe. 

Buchanfang:
In einem großen Stadthaus wohnte einmal ein Mäuseken ganz allein, das hieß Wackelohr. Als Kleines war es einst von der Katze überfallen worden, und dabei war ihm das Ohr so zerrissen, daß die Maus es nicht mehr spitzen, sondern nur noch damit wackeln konnte. Darum hieß sie Wackelohr. Und dieselbe alte böse Katze hatte ihr auch alle Brüder und Schwestern und die Eltern gemordet, deshalb wohnte sie so allein in dem großen Stadthaus. Da war es ihr oft sehr einsam, und sie klagte, daß sie so gerne ein anderes Mäuseken zum Spielgefährten gehabt hätte, am liebsten einen hübschen Mäuserich. Aber von dem Klagen kam keiner, und Wackelohr blieb allein:
Als nun einmal alles im Hause schlief, und die böse Katze auch, saß Wackelohr in der Speisekammer, nagte an einem Stück Speck und klagte dabei wieder recht jämmerlich über die große Verlassenheit. Da hörte sie eine hohe Stimme, die sprach: „Hihi! Was bist du doch für ein dummes, blindes Mäuseken! Du brauchst ja nur aus dem Fenster zu schauen und siehst den hübschesten Mäuserich von der Welt! Dazu geht es ihm auch noch wie dir: Er ist ebenso allein wie du und sehnt sich herzlich nach einem Mäusefräulein.“
Wackelohr guckte hierhin, und Wackelohr guckte dahin, Wackelohr sah auf den Speckteller und unter den Tellerrand aber Wackelohr erblickte niemanden. Schließlich sah sie zum Fenster hinaus. Doch drüben war nur ein anderes großes Stadthaus, mit vielen Fenstern,  .....

Die Geschichte vom „Mäuseken Wackelohr“ entnahmen wir mit freundlicher Genehmigung des Aufbau-Verlages: Hans Fallada, „Geschichten aus der Murkelei“.

Der Kinderbuchverlag Berlin
1. Auflage 1976
2. Auflage 1978
3. Auflage 1979
4. Auflage 1984
Neuauflage 1991 [1. - 103. Tsd.]

 

14 August 2025

Gabrielle Russier: Wie man eine Flaschenpost ins Meer wirft - Briefe aus dem Gefängnis

Buchinfo

Am 10. Juli 1969 verhandelt die 5. Strafkammer des Amtsgerichts Marseille über einen Fall von Verführung Minderjähriger. Angeklagt ist die 32 jährige Gabrielle Nogues, geborene Russier, geschieden, zwei Kinder. Von Beruf Lehrerin. Der „Geschädigte“, Christian R., 17, ist einer ihrer Schüler. Die Öffentlichkeit ist von dem Prozess ausgeschlossen. Dennoch spricht ganz Frankreich über den Fall. Kaum jemand bezweifelt, dass hier eine legitime, echte und tiefe menschliche Beziehung unter Anklage gestellt wird, eine Liebe, die schweren Belastungen, psychischen Druck, langer Trennung, Gefängnis standhielt. Hat das Gesetz (der Code Napoléon von 1804) recht, wenn es eine solche Beziehung für strafbar erklärt? Das Urteil fällt „milde“ aus; es wird von einer eben erlassenen Amnestie aufgehoben. Der Skandal scheint sich in Nichts aufzulösen. Da aber tritt die Staatsanwaltschaft erneut auf den Plan. Sie legt Berufung ein, fordert eine strengere Strafe. Gabrielle Russier, von einer entwürdigenden Untersuchungshaft zermürbt, von der Angst vor der Vernichtung ihrer beruflichen und menschlichen Existenz gepeinigt, begeht Selbstmord.

Wer trägt die Schuld an diesem Tod? War er unvermeidlich? Presse, Funk und Fernsehen ergehen sich in erregten Kommentaren, Präsident Pompidou nimmt auf seiner Pressekonferenz Stellung, Bücher werden geschrieben, André Cayatte dreht den Film „Aus Liebe sterben“. Neben diese vielen, oft hitzigen, nicht immer sachgerechten Äußerungen stellt der Schriftsteller Raymond Jean ein Zeugnis von Gewicht. Im Unterschied zu den meisten Kommentatoren kannte er Gabrielle Russier persönlich, seit vielen Jahren: als Universitätslehrer und Freund. In einem längeren Essay zeichnet er ein Porträt dieser Frau und analysiert die gesellschaftlichen Umstände, unter denen es zu dem Drama kommen konnte. Die von ihm gesammelten Briefe Gabrielles an Freunde und Verwandte vermitteln uns ein authentisches Bild von der Toten. Diese Briefe sind ein menschliches Dokument, das ergreift und erschüttert. Sie verraten Charakter, Lauterkeit, und zugleich eignet ihnen Poesie, Schönheit und, in seltenen Augenblicken Heiterkeit.

Zum großen Teil im Gefängnis und während des für Gabrielle Russier verhängnisvollen Sommers 1969 geschrieben, lassen uns diese Briefe nacherleben, wie ein wertvoller Mensch in die Enge getrieben und zerbrochen wurde.

Der Tod Gabrielle Russiers, so sinnlos und schmerzlich er erscheint, ist nicht ohne Wirkung geblieben. Denn „wenn es jemanden gibt, und sei er auch ganz allein, der es wagt, in Übereinstimmung mit seinen Vorstellungen und Grundsätzen zu leben“ - so schrieb Michel Del Castillo in einem Buch über den Fall Russier -, „dann werden viele andere Mut bekommen und ein wenig von ihrer Würde wiederfinden".


Buchbeginn

Gasgeruch im Treppenhaus. Nachbarn, die sich beunruhigen. Ein Fenster wird eingeschlagen. Und auf ihrem Bett, tot, aus dem Leben geschieden, Gabrielle Russier, 32, Französischlehrerin am Gymnasium Marseille-Nord. Kein Brief, keine Botschaft, nichts. Der Tod in eingemauerter Stille und unlösbarer Verzweiflung. 

Inhalt:
5    Martine Monod
     Geschichte eines Selbstmords
15 Raymond Jean
     Für Gabrielle
91 Gabrielle Russier
     Briefe aus dem Gefängnis
     95 An Françoise, 8. März 1968
     96 An Françoise, 4. August 1968
     98 An Albert, Ende Oktober 1968
     99 An Raymond Jean, 8. Januar 1969
          An Françoise, 18. Februar 1969
     101 An Raymond Jean, 15. März 1969
            An Gilberte T., Dienstag vor Ostern 1969
     102 An Gilberte T., April 1969
     103 An die Mutter von Gilberte T., April 1969
     104 An Albert, 27. April 1969
     105 An Gilberte T., Ende April 1969
     109 An Gilberte T., Ende April 1969
     112 An Gilberte T., 5. Mai 1969
     114 An Gilberte T., 7. Mai 1969
     116 An Albert, 9. Mai 1969
     118 An Gilberte T., 12. Mai 1969
     121 An die Eltern, 13. Mai 1969
     122 An die Eltern, 13. Mai 1969
     123 An Albert, 15. Mai 1969
     126 An Gilberte T., 16. Mai 1969
     130 An Michel Nogues, 16. Mai 1969
     133 An Raymond Jean, 16. Mai 1969
     136 An Gilberte T., 19. Mai 1969
     138 An die Eltern, 27. Mai 1969
     140 An Michel Nogues, 28. Mai 1969
     142 An Albert, 30. Mai 1969
     144 An Gilberte T., 30. Mai 1969
     146 An Michel Nogues, (ohne Datum)
     149 An Raymond Jean, 5. Juni 1969
     150 An Gilberte T., 24. Juni 1969
     151 An Gilberte T., 16. Juli 1969
     153 An Gilberte T., 23. Juli 1969
     155 An Michel Nogues, Ende Juli 1969
     157 An Michel Nogues, 1. August 1969
     159 An Gilberte T., 27. August 1969
     162 An Michel Nogues, 29. August 1969
165 Anmerkungen

Originalausgabe unter dem Titel: Russier, Gabrielle: Lettres de prison
Aus dem Französischen von Joachim Meinert
Anmerkungen am Schluß des Bandes
Mit einer Einführung von Martine Monod und einem Essay von Raymond Jean
Gestaltung Schutzumschlag: Gisela Ruth Mossner

Verlag Volk und Welt Berlin
1. Auflage 1974
2. Auflage 1975 


13 August 2025

Lilo Hardel: Das schüchterne Lottchen

Buchanfang:
Mutti geht zur Arbeit
Lottchen Klinke brauchte nur über den Treppenflur zu gehen, dann war sie vor der Wohnungstür der Frau Heinefetter; denn Frau Heinefetter war die Nachbarin der Familie Klinke.
Jeden Morgen war es das gleiche: Lottchen stand oben auf dem Treppenflur und weinte. „Wann kommst du wieder, Mutti? Mutti, wann kommst du wieder?“ Sie schluchzte, und die Brötchen auf dem Teller, den sie in der Hand hielt, rutschten hin und her, und die Katze, die sie unter dem Arm hatte, mauzte.
Frau Klinke ging zu ihrer Arbeit. Sie war schon fast unten. Sie hatte es eilig; denn sie wollte nicht zu spät kommen. „Weine nicht, Lottchen“, rief sie hinauf. „Ich komme ja um fünf Uhr zurück – wie jeden Tag! Sei lieb, Lottchen, weine nicht.“
Dann öffnete Frau Heinefetter ihre Tür und nahm Lottchen in den Arm. Sie brachte sie in ihre Küche und tröstete sie. „Jetzt wird erst einmal gefrühstückt, Fräulein Klinke“, und sie hob Lottchen auf einen Küchenstuhl. Frau Heinefetter nahm eine Tasse mit warmer Milch vom Herd, stellte sie neben Lottchens Frühstücksteller und wischte ihr mit einem großen Taschentuch die Tränen von den Bäckchen. „Deine Mieze ist auch hungrig“, sagte sie, nahm die Katze und setzte sie auf die Erde.
Wenn die Katze ihren Brei von der Untertasse schleckerte und Frau Heinefetter sich neben Lottchen an den Tisch gesetzt hatte, griff Lottchen zu ihrem Brötchen und biß hinein. „Mutti kommt ja wieder!“ Sie seufzte noch einmal und beugte sich zu der Katze hinunter. „Du mußt fressen und artig sein.“ Und während sie ihre Milchtasse nahm, fragte sie: „Nicht wahr, Tante Heinefetter, Mutti kommt wieder?“ Und Frau Heinefetter nickte. „Ja, mein Kind, um fünf Uhr ist Mutti wieder hier.“

Lottchen spielt allein
Frau Heinefetter war eine alte Frau. Sie hatte ein rundes Gesicht, eine kleine, dicke Nase und liebe Augen. Ihr Gesicht hatte viele Runzeln, und ihr Haar war weiß. Sie war sehr klein.
„Warum bist du so klein?“ hatte Lottchen gefragt.
Aber Tante Heinefetter wußte das auch nicht. Sie erzählte Lottchen, daß sie früher, als sie noch jünger war, nicht ganz so klein gewesen sei. „Man wird kleiner, wenn man alt wird.“ Aber so groß wie Mutti war Tante Heinefetter nie gewesen; denn man wird nur ein bißchen kleiner, wenn man alt ist.
Lottchen ging jeden Morgen zu Frau Heinefetter und blieb dort, bis ihre Mutter wiederkam. Wenn Frau Heinefetter mit dem Aufräumen der Wohnung fertig war, nahm sie Lottchen mit zum Einkaufen. Sie gingen beide, Hand in Hand, langsam die Straßen entlang und sahen beim Bäcker, beim Fleischer, beim Gemüsemann und im Lebensmittelkonsum nach, was es Gutes zu essen gab. Lottchen nahm ein Henkelkörbchen, weil sie beim Tragen helfen wollte. Frau Heinefetter trug ihre große, lederne Tasche, die seit vielen Jahren zum Einkaufen diente; denn die Mutter von Frau Heinefetter hatte schon mit dieser Tasche eingekauft, so alt war sie. Man sah es ihr auch an.
Das Leder war vom vielen Gebrauch blank und am oberen Rand dünn und abgenutzt, und an drei Stellen war sie mit hellen Lederstücken geflickt.
Frau Heinefetter liebte ihre alte Tasche, und Lottchen konnte das gut verstehen.
„Eigentlich wollte ich heute Reis mit Backobst für uns kochen“, meinte Frau Heinefetter, als sie vor dem Gemüseladen standen. „Aber jetzt sehe ich hier die schönen Mohrrüben. Was denkst du, Lottchen?“
„Mohrrüben!“ rief Lottchen und hob das Körbchen in die Höhe. „Wir können ja morgen Reis essen. Die Mohrrüben passen in mein Körbchen.“ .....

Inhalt:
Mutti geht zur Arbeit .. .. .. .. 5
Lottchen spielt allein .. .. .. .. 6
Lottchen fällt in den Schnee .. .. .. .. 9
Lottchen will nicht in den Kindergarten .. .. .. .. 12
Die Waden müssen zusammenstoßen .. .. .. .. 15
Ob Lottchen mitfährt? .. .. .. .. 18
Lottchen will mitfahren .. .. .. .. 19
Glückliche Reise! .. .. .. .. 24
Lottchen versteckt sich .. .. .. .. 27
Verreist wird trotzdem .. .. .. .. 29
Der Zug fährt ab .. .. .. .. 30
Mathilde versteckt sich .. .. .. .. 33
Die Kinder üben Schleifenbinden .. .. .. .. 37
In der Kleinbahn .. .. .. .. 41
Die Ankunft in Bärenfels .. .. .. .. 42
Hier bleiben wir, solange es geht .. .. .. .. 44
Lauter Tiere aus Schnee .. .. .. .. 46
Der Bürgermeister hat einen Pferdeschlitten .. .. .. .. 48
Die Schlittenfahrt .. .. .. .. 50
Auch Lottchen rodelt .. .. .. .. 53
Eine Ansichtskarte an Karl .. .. .. .. 56
Draußen steht einer .. .. .. .. 58
Andere Kinder sind nicht schüchtern .. .. .. .. 62
Unsre Katz heißt Mohrle .. .. .. .. 65
Lottchen möchte in den Kindergarten .. .. .. .. 67
Übermorgen bringt dich die Mutti mit .. .. .. .. 70

Zeichnungen von Ingeborg Friebel
Für Kinder von 7 Jahren an

Der Kinderbuchverlag, Berlin
1. Auflage 1953 [1.-30. Tsd.]
2. Auflage 1954
3. Auflage 1954
4. Auflage 1955 [61.-70. Tsd.]
5. Auflage 1957
6. Auflage 1959
7. Auflage 1960
8. Auflage 1961
9. Auflage 1964
10. Auflage 1966

Erika Schröder: Die gläsernen Stiefel – 11 Märchen aus 11 Ländern

Buchanfang:
Die gläsernen Stiefel
Es war einmal eine alte Frau, die wollte ihr Enkelchen besuchen. Sie hatte ihm feine gläserne Stiefelchen gekauft. Als sie durch den Wald ging, begegnete ihr der Hase.
„Guten Tag, Großmutter“, sagte der Hase. „Wohin gehst du, und was trägst du in der Tasche?“
„Ich gehe zu meinem Enkelchen und schenke ihm gläserne Stiefel“, antwortete die alte Frau.
„Zeig sie mir doch mal. Wenn sie mir gefallen, lasse ich mir auch solche machen.“
Die Großmutter holte die feinen gläsernen Stiefel aus der Tasche.
„Ach, wie sind die hübsch“, rief der Hase. „Ob sie mir wohl passen?“ Und schon probierte er sie an. „Sie passen mir, sie passen mir ganz genau!“ Der Hase freute sich. „Ich will versuchen, ob ich darin laufen kann.“
Der Hase hüpfte auf einem Bein, er hüpfte auf dem anderen Bein, und hops, auf einmal war er davongehüpft. Die Großmutter rannte nach Hause und erzählte den Nachbarn, daß der Hase ihr die feinen gläsernen Stiefel gestohlen hatte. Da gingen sie mit Hunden in den Wald und jagten die Hasen. Aber einen Hasen mit gläsernen Stiefeln haben sie nicht gefangen. Vielleicht waren die Stiefel schon kaputtgegangen?
Litauisches Volksmärchen

Inhalt:
Die gläsernen Stiefel
Der Handschuh
Nordwind und Ostwind
Drei rote Ferkelchen
Der Kuchenmann
Der Sohn des Königs
Der Fuchs, der Bär und der arme Mann
Die wilden Schwäne
Das Töpfchen
Die beiden Drescher
Vom undankbaren Kücken

Illustrationen von Gisela Klein
    
Der Kinderbuchverlag, Berlin
1. Auflage 1982
2. Auflage 1983

10 August 2025

Carolina Maria de Jesus: Tagebuch der Armut / Das Haus aus Stein

Buchinfo

Carolina Maria de Jesus (1914 - 1977), brasilianische N*, seit 1937 in Sao Paulo, landete nach der Geburt ihres ersten Kindes in der Favela, "dem Ort, wohin man nicht nur Dinge, sondern auch Menschen wirft".

"Ich kam nach meinen Versuchen, etwas im Abfall zu finden, zu Hause an und hatte nichts zu essen. Ich lehnte mich innerlich auf und schrieb." Der Journalist Audálio Dantas entdeckte die Aufzeichnungen, "eine Revolution in einer Bretterbude. Die Revolution wurde zum Buch und bekam den Titel ,Tagebuch der Armut'". Die erste Auflage erschien 1960 in Sao Paulo und war innerhalb von drei Tagen vergriffen, es folgten aufsehenerregende Ausgaben in aller Welt.

Das Buch, dessen Erfolg es der Autorin ermöglichte, die Favela nach mehr als fünfzehn Jahren zu verlassen, "ist ein Schrei des Protestes. Ein Dokument der tiefsten Verzweiflung. Es ist aus dem Abfall hervorgegangen, wie seine Autorin, um einen Teil des brasilianischen Lebens zu offenbaren. Mit aller Kraft, die ihm innewohnt" (Audálio Dantas).


Leseprobe

Ich kann meiner lieben verstorbenen Mutter nichts nachsagen. Sie war sehr gut. Ihrem Wunsche nach sollte ich Lehrerin werden. Die Lebensumstände haben sie daran gehindert, ihren Traum zu verwirklichen. Aber sie hat meinen Charakter gebildet, indem sie mich lehrte, die Demütigen und die Armen zu lieben. Deshalb tun mir die Bewohner der Favela leid. Obgleich es hier Leute gibt, die verachtet werden müßten, Leute, die wirklich böswillig sind. Heute nacht haben Dona Amelia und ihr Freund sich gestritten. Sie schrie, daß er nur wegen des Geldes, das sie ihm gibt, mit ihr zusammen lebe. Man hörte nur die Stimme der Dona Amelia, die an dem Streit Freude zu haben schien. Sie hat mehrere Kinder in die Welt gesetzt. Sie hat sie alle verteilt. Sie hat zwei erwachsene Söhne, die sie nicht im Hause haben will. Sie setzt ihre Söhne zurück und zieht die Männer vor. Der Mann tritt durch die Tür ein. Der Sohn ist die Wurzel des Herzens.

Reclams Universal-Bibliothek Band 299
2. Auflage 1979


Zu diesem Buch gibt es noch einen 2. Teil. Dieser erschien, soviel ich weiß, nicht in der DDR. Ich möchte ihn euch aber nicht vorenthalten und stelle ihn hier mit vor:


Das Haus aus Stein - Die Zeit nach dem Tagebuch der Armut (1961)

Buchinfo
In "Das Haus aus Stein" beschreibt Carolina Maria de Jesus ihr Leben nach Erscheinen des "Tagebuchs der Armut", dem Tagebuch aus fünf Jahren Leben in einem Elendsviertel vor den Toren Sao Paulos. Das Aschenputtel Brasiliens, gleichsam zu einem Konsumprodukt geworden, ist plötzlich weltberühmt. Sie wird interviewt und fotografiert, die Kritiker verleihen ihr Preise, die Reichen laden sie zu Tisch, und verschiedene Präsidenten empfangen sie. Sie verläßt die Favela und lernt die Welt der "Reichen" kennen. Mit "Reichen" meint sie nicht die wirklich Reichen, von ihrem Standpunkt aus sind alle reich, die in einem Steinhaus leben. Unter gewissen Gesichtspunkten ist "Das Haus aus Stein" ein noch fesselnderes Buch, weil sich darin ein wenig Freude findet, der Glanz der neuentdeckten Welt, das Glück des vollen Magens, die Ratlosigkeit vor ungewohnten Dingen und eine bittere Feststellung: Auch in den Steinhäusern gibt es Elend in den verschiedensten Formen.
Dann vergingen die Jahre. Im Nachwort wird geschildert, wie sie in die Favela zurückkehrt und dort 1977 stirbt. Keiner erinnerte sich mehr an die Frau, die geschrieben hatte: "Der Hunger ist das Dynamit des menschlichen Körpers."

Buchbeginn
Eines Tages - es war ein Nachmittag im April 1958 - ging ich in die Favela do Canindé und entdeckte eine Revolution in einer Bretterbude; die Aufzeichnungen der N* Carolina Maria de Jesus. Die Revolution wurde zum Buch und bekam den Titel "Tagebuch der Armut".
Jetzt muß ich von neuen Aufzeichnungen derselben N* sprechen. Sie ist aus der Bretterbude herausgekommen und hat ein Traumhaus bezogen - ein Haus aus Stein. Sie ist unsere Nachbarin, hier, wo sie mit jenen Augen um sich blickt, die daran gewöhnt waren, die Favela zu sehen, alles zu beobachten und aufzuschreiben: das Große, Schöne und Elende dieser Seite des Lebens.

Wagner Verlag 

Ursula Ullrich: Am Abend sind die Schatten lang

Es kommt vor, daß Menschen einander nicht ihr wirkliches Leben erzählen, sondern Geschichten, mit denen sie es besser zu ertragen glauben. Die Menschen in diesen sechs Erzählungen lernten, ihr Leben so zu sehen, wie es eben ist. Sie lernten, mit Problemen zu Rande zu kommen, Auswege aus der Ausweglosigkeit zu finden, scheinbar Unannehmbares anzunehmen.

Ursula Ullrich, 1932 in Dresden geboren, erzählt Lebensgeschichten einfühlsam und mit einem feinen Sinn für Humor; sie wirbt um Verständnis für menschliche Eigenheiten und Verletzbarkeiten. Sie beschreibt, wie diejenigen, die heute fast ausnahmslos im achten Lebensjahrzehnt stehen, gelebt haben, oft viel zu gehorsam und schicksalergeben, jedoch mit einem untrüglichen Gefühl für Menschenwürde. Sie erzählt von Konflikten zwischen den Generationen, aber auch vom achtungsvollen Umgang zwischen Alten und Jungen; sie entdeckt Ungewöhnliches in alltäglichen Lebensläufen, und sie beschönigt die Bitterkeit mancher Erfahrung nicht, auch nicht die Leere, die der Tod hinterläßt. Dennoch sehen nicht alle Menschen, um die es in den Erzählungen geht, das Leben nur von seinem Ende her. Neben den Verzagenden gibt es die Mutigen. Mut gehört zum Wandeln von Lebensansichten, und Mut gehört auch dazu, mit über siebzig Jahren noch eine Ehe zu schließen, wie es in der Titelerzählung geschieht


Buchbeginn

Das Gespann

Hermann sitzt am Küchentisch und liest die Zeitung. Vor dreißig Jahren hat er sie noch weit von sich strecken müssen und gefürchtet, daß seine Arme eines Tages nicht mehr ausreichen könnten, die verschwimmenden Buchstaben in den Schärfebereich zu rücken. Jetzt wundert er sich, wie gut er sehen kann, wenn er das Blatt dicht vor die Augen hält. Hermann liest die Zeitung gründlich und fängt auch nicht von hinten zu lesen an, dort, wo die Lokalnachrichten stehen. Bloß einen einzigen Blick wirft er auf die letzte Seite. Wenn er einen bekannten Namen in einem der schwarzgerandeten Felder entdeckt, schüttelt er halb bedauernd, halb mißbilligend den Kopf und ruft seiner am Herd hantierenden Frau zu: "Hulda, denk ner, 's in widder aanergestorbn, dr Römersch Franz. Naanaa, wer hätt dös gedacht, aß der siech emol sue bezeiten drrahmachen tutt!"

Union Verlag Berlin
1. Auflage 1987
ISBN: 3372000919 

Alice Uszkoreit: Bekanntschaften - Eine Anthologie

Buchinfo

Sarah Kirsch über eine Parteiarbeiterin; Wolfgang Kröber über eine Gruppe von Chemiearbeitern; Irmtraud Morgner über einen Bauleiter; Walther Petri über einen Gleismeister im Braunkohlenrevier; Siegfried Pitschmann über eine Feinmechanikerin; Helga Schubert über einen Meister in einer Maschinenfabrik; Axel Schulze über einen Ingenieur aus Buna; Maria Seidemann über eine Metallwerkerbrigade; Martin Stephan über eine Druckereiarbeiterin, Wolfgang Trampe über einen Eisenbahner.

Neunzehn Autoren befragen Leute ihrer Bekanntschaft. Neunzehn Geschichten porträtieren Zeitgenossen.




Buchbeginn

Nach Shanghai und zurück
Aus dem Leben der Genossin Genia Nobel
nacherzählt von Sarah Kirsch

Ich komme aus einer Familie, die reaktionär und religiös war, bin aber ein vernünftiger Mensch. Und da fiel mir irgendwann mal auf - da ich ja eine Schule besuchte und in Physik und Chemie sehr gut war -, daß das eigentlich ulkig ist: Ein bärtiger alter Mann, der verträgt sich weder mit den Gesetzen der Schwerkraft noch mit irgend etwas anderem. Ich war vielleicht elf oder zwölf. Aber so ganz sicher war ich mir nicht. Ich hatte ja keine Mutter - meine Mutter starb, als ich sechs Jahre alt war. Abendgebete jeden Abend. Und bloß nicht vergessen, sonst geschieht etwas Furchtbares, eine Gottesstrafe und so.

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar
1. Auflage 1976
Einbandgestaltung: Heinz Hellmis