17 November 2020

Sagen aus Heide und Spreewald


 Von der Mittagsfrau

Unergründlich und oft voller Schrecken erschien dem Menschen einst die Natur. Überall sah er geheimnisvolle Kräfte walten, die er sich später in menschlicher Gestalt vorstellte. Solche Dämonen standen dem Menschen meist feindlich gegenüber und bedrohten oft sein Leben. Mitunter aber standen sie ihm auch hilfreich zur Seite und unterstützten besonders den, der guten Herzens oder von sozialer Not bedrängt war. Als einen solchen Felddämon kannten die Sorben, und mit ihnen besonders die westslawischen Völker, die Mittagsfrau. Sie streifte an sonnigen, heißen Sommertagen zwischen zwölf und ein Uhr mittags über die Felder und hatte es besonders auf Frauen abgesehen, die in dieser Ruhestunde ihr Flachsfeld jäteten oder Getreide ernteten. In weißen, wehenden Kleidern stand die knochige Frau urplötzlich vor ihren Opfern, die scharfe Sichel drohend erhoben. Es gab nur ein Mittel, sich zu retten: Man musste ihr bis zum Glockenschlag ein Uhr von der bäuerlichen Arbeit, meist vom Flachsanbau, berichten. Gelang das nicht, so war das Leben verwirkt. Nur in einem Fall berichtet die Sage, dass ein solches Schicksal auch die hartherzigen Vögte und habgierigen Junker traf, die ihre Schnitter zwingen wollten, die Mittagsstunde hindurch zu arbeiten. Wir wissen heute natürlich, dass Hitzschlag und Sonnenstich in der Ernteglut so manches Opfer gefordert haben und dass dies zur Entstehung dieser Sagengestalt beigetragen hat.

VEB Domowina-Verlag, Bautzen, 5. Auflage, 1986 (1. Auflage 1970)
Mit Illustrationen von Rolf Kuhrt.

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