13 Januar 2021

Erika Pick, Akademie der Künste (Hrsg.): Das schönste Buch der Welt - Wie ich lesen lernte


 Erste Begegnungen mit Literatur im weitesten Sinne lassen achtzehn Autoren der DDR - Apitz, Gotsche, Baierl, Brězan, Hermlin, Kant, Kohlhaase, Sakowski, Seghers u. a. - lebendig werden. Unterschiedliche Herkunft, besondere Zeitumstände drückten diesen "Leseabenteuern" von "Robinson" und Karl May bis zu Shakespeare und Scholochow ihren Stempel auf. Reizvoll ist dabei nicht nur der Blick auf eine Seite der Kinder- und Jugendzeit bekannter Schriftsteller, sondern auch die "Historie" von Bildungsmöglichkeiten, die sich darin abzeichnet: vom Beginn unseres Jahrhunderts bis in die Gegenwart.

Buchanfang:
Alfred Kurella: Vertraute Freunde
Ja, die Kunst war es, die zu mir kam, und erst das erlaubte mir, später sie zu entdecken als etwas, zu dem man von sich aus in Beziehung treten und das man in seinem ganzen Ausmaß entdecken kann. Ich glaube übrigens, daß das ,,Entdecken" eigentlich immer so vor sich geht: auch Kolumbus konnte Amerika nur „entdecken", weil es bereits vorhanden war und weil er aus der Kombination verschiedener Mitteilungen, Erfahrungen anderer Seefahrer und eigenen Überlegungen eine Ahnung von diesem Vorhandensein hatte und sich deshalb bereits in einer bestimmten Richtung auf die Suche machen konnte. Auch Einstein ist es wohl nicht anders ergangen: zahlreiche Beobachtungen, Erfahrungen, aufgestellte und verworfene Hypothesen deuteten nicht nur das Vorhandensein eines Gesetzes an, sondern auch den Zusammenhang, die Richtung, in der es gesucht und gefunden werden konnte. Ja selbst bei zufälligen Entdeckungen (wie zum Beispiel bei dem berühmten Mörser des Berthold Schwarz oder dem fallenden Apfel Newtons) hatten diese Zufälle doch nur den letzten Anstoß für eine längst in der Stille vorbereitete Entdeckung gegeben.
Nun hat die ursprüngliche Frage: Wie entdeckte ich Literatur? einen doppelten Sinn: Einerseits kann gemeint sein, wie man zum erstenmal darauf kam, ...

Mit Texten von:

Alfred Kurella: Karl May kam gar nicht erst ins Haus.
Wieland Herzfelde: Von Alexis und Altenberg bis Zola und Zschokke.
Bruno Apitz: Der Gefängnisgeistliche brachte mir Shakespeare.
Anna Seghers: Das alles wollen Sie wahrscheinlich gar nicht wissen.
Hans Lorbeer: Um richtig zu leben, muß man richtig lesen.
Otto Gotsche: Mit Ali Baba kämpften wir gegen die 40 Räuber.
Wilhelm Girnus: Mir fällt dann immer Rabelais ein.
Stepban Hermlin: Man muß nicht alles kommentieren.
Jurij Brezan: Links das Buch und rechts das Leben.
Max Walter Schulz: Ich versenkte mein Leseschiff.
Günther Deicke: Mein Traum: „Robinson".
Günther Rücker: Die „Fromme Helene“ machte mich nicht heiter.
Helmut Sakowski: Vom Anglerverein bekam ich „Die Ahnen".
Hermann Kant: Ich kann nicht ohne Zeitungen auskommen.
Helmut Baierl: Ich wurde als Minirezitator 'rumgereicht.
Bernbard Seeger: Ich drückte Mutter Wolffen die Daumen.
Wolfgang Koblbaase: Wir waren laute Burschen und stille Seelen.
Benito Wogatzki: Die meisten Bücher lesen wir alle noch einmal.

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar
1. Auflage 1973
2. Auflage 1977
Edition Neue Texte

Angelika Mechtel: Das Puppengesicht


 Ingrid, nachdem ihr Mann im Gefängnis sitzt, erkennt: "Mein Gott, wir sind abgetrieben worden. Anfangs sah alles so einfach aus. Ich war überzeugt, daß wir Glück haben mußten. Daß uns keine Sterne in den Schoß fallen würden, war mir klar. Flach ins Wasser köpfen, so habe ich mir's vorgestellt, langgestreckt und voller Kraft. Hätte ich wissen müssen, daß uns die Strömung hinausziehen konnte?"
Von Jana, die sich in ihrer Ehe eingesperrt fühlt, heißt es: "Sie hatte Träume, in denen sie Vögel einfing, die sie nachts ausfliegen ließ. Es steckte ihr in der Kehle, als hätte sie Heimweh."
Katrin, deren Leben zu Protokoll gegeben wird, resigniert nicht: "Ich habe es nicht aufgegeben, mich von meinem Glück zu überzeugen. Ich bin hartnäckig gewesen. Ich habe es für mich behalten. Unsere Tochter habe ich zum Protest erzogen."
Fliegen möchte die eine, hinausschwimmen die andere, Träume, Wünsche und Hoffnungen haben sie alle: Es sind Frauen, deren Los die bei München lebende Erzählerin Angelika Mechtel aufzeichnet. An einzelnen Schicksalen zeigt sie Krisensituationen einer Gesellschaft, die ebensowenig mit schönen Sprüchen überdeckt werden können, wie Puppengesichter Risse und Sprünge in Kopf und Herz verbergen.

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1. Auflage 1977
Edition Neue Texte

Helga Königsdorf: Hochzeit in Pizunda


 Das Taschenbuch bringt eine Auswahl aus den beiden Erzählungsbänden von Helga Königsdorf: "Meine ungehörigen Träume" und "Der Lauf der Dinge". Die Texte sind so variantenreich wie der erzählerische Ton der Autorin, der satirisch und ironisch sein kann oder nachdenklich und sensibel. Um Möglichkeiten, sich auszuleben, geht es in diesen Geschichten, um verschüttete oder verhinderte Produktivität, um das Herauswachsen aus alten Geschlechterrollen, die zu Fesseln werden können.

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1. Auflage 1986
bb

12 Januar 2021

Margarete Neumann: Windflöte und andere Geschichten


 Roter Autobus, ein kleiner schwarzer Hund, der hochgeschossene Junge, ernst und streng, ein Haus mit hundert Fenstern, auf denen Abendglanz steht. Herbstwind, der Flöte spielt, Schatten im Nebel, das Mädchen mit der Kornblumenkrone im Haar, eine feuchte Felswand: gestern wie heute und morgen, aber auch nie wie vorher und nie wie irgendwann nachdem, unwiederholbar wie der eine, nicht wiederholbare Blick darauf hin.
Ich möchte das Wichtigste sichtbar machen für einen Augenblick, die Bewegung, den Strom. Wie ein Bild sich einprägt, das einer in sich, mit sich fortträgt, wie eine Empfindung entsteht, ein Gedanke, ein Lächeln, wie ein Schmerz sich zusammenballt, eine Liebe verlöscht.
M. N., April 1978

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 2. Auflage 1982
Edition Neue Texte

Josane Duranteau: La Belle Indienne


 La Belle Indienne ist ein gottverlassenes Nest im Poitou. Der Lehrerin Marguerite, die dort aufwuchs, ist dieser Name Symbol für die unkomplizierte, glückliche Zeit ihrer behüteten Kindheit, an die sie jedesmal zurückdenkt, wenn sie die Welt mit ihrem neumodischen Kram nicht mehr begreift. Sechs Kinder hat sie geboren. Den Ältesten nahm ihr der Krieg, die anderen hält sie in strenger Zucht: von ihnen will sie keins mehr hergeben. Da bekommt ihr Sohn Jean einen Rappel, heiratet in Paris eine undefinierbare Person, ein Baby ist auch gleich da, und von all dem hat Marguerite nichts gewußt. Und was findet Emile an dieser quirligen Mimi, die häufiger im Tanzlokal zu finden war, als sie je die Schule besuchte? Emile schwimmt so in Glückseligkeit, daß er keinem vernünftigen Argument mütterlicherseits mehr zugänglich ist. Wenn schon die Söhne der Schwäche des Fleisches erliegen, so muß wenigstens die arme schüchtern Charlotte vor der Ehe bewahrt werden. Die Männer starren ihr ungeniert auf den recht umfänglichen Busen, und seit ihr ein Fürwitziger bei Regenwetter seinen Schirm angeboten hatte, geht sie nie mehr ohne einen solchen aus; der Schreck darüber saß ihr noch lange in den Gliedern. Charlotte hat am meisten unter der Verschrobenheit der Mutter zu leiden. Als alte Frau jedoch ist Marguerite duldsamer, und es gelingt ihr, sich von den selbstauferlegten Zwängen zu befreien, in dem Bewußtsein, daß in ihrer Enkelin, Jeans Tochter, eine Spur von ihr fortleben wird.

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1. Auflage 1978
Aus dem Französischen übersetzt von Klaus Nöckler
Mit einer Nachbemerkung von Irene Zimdahl
Edition Neue Texte

Alice Childress: Ein Held ist auch bloß'n Würstchen


 Hartnäckig behauptet der dreizehnjährige Benjie Johnson, er sei doch nicht rauschgiftsüchtig, nur weil er sich ab und zu mal einen Schuß genehmigt. Aber der Teufel Heroin, dem er den kleinen Finger reichte, hat ihn schon fest am Arm. Benjies Mutter und Großmutter, sein Stiefvater und sein Freund, zwei sonst ewig zerstrittene Lehrer - sie alle bemühen sich auf unterschiedliche Weise, den Jungen von der schiefen Bahn abzubringen. Doch erst einmal führt Benjies Weg über kleinere und größere Diebstähle bis dicht an den Abgrund, der sich plötzlich ganz real - sechs Stockwerke tief - vor ihm auftut. Sein Stiefvater ist es, der ihn im letzten Moment zurückreißt. Nun erkennt Benjie endlich, daß er ihn akzeptieren muß - ihn und das Leben in Harlem mit all seinen Gefährdungen und seinen Hoffnungen.

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1. Auflage 1984
Deutsch von Elfi Schneidenbach
Edition Neue Texte

Christiane Rochefort: Mein Mann hat immer recht


 In keinem ihrer brillant aggressiv geschriebenen Bücher hat sich Christiane Rochefort gleich auf den ersten Seiten, vermutlich ohne es zu beabsichtigen, dem Leser so entschleiert präsentiert wie im vorliegenden: "Und bringt es dich überhaupt weiter, dieses Dasein, das du so führst?... Was antworten? Natürlich nicht, es bringt mich gar nicht weiter. Es ist nicht dazu da, weiterzubringen, übrigens: wohin weiterbringen? Wozu ist es denn da? Also gut, ich weiß es nicht. Siehst du, sagt er mit einem guten Lächeln, du siehst, daß du es nicht weißt..." Was der mit dem "guten Lächeln" da vom Leben weiß und wozu es da ist: Karriere zu machen, Geld zu verdienen, sich eine gängige Moral zuzulegen, ein sozialintensives Image und was dazugehört, zerfetzt Christiane Rochefort wollüstig. Das Schlachten geschieht so boshaft treffsicher, so genußvoll feinschmeckerisch, daß der bezauberte Leser am Ende vergißt, die Autorin nach ihrem Sinn des Daseins zu fragen.

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1. Auflage 1975
Aus dem Französischen übersetzt von Walter Maria Guggenheimer.
Mit einer Nachbemerkung von Harald Hauser.
Edition Neue Texte