01 Oktober 2024

Manfred Weinert: Selgo

Buchanfang:
Selgos Geschichte begann, als er noch gar nicht geboren war, und doch lebte er schon. Sie begann fast wie ein Märchen. Es war einmal ein Mädchen.
Es lebte in einer sehr kleinen Stadt. Jedermann kannte die Lustige, denn wenn sie lachte, hatten die Leute Spaß, und wenn sie lernte, bekam sie nur sehr gute Zensuren. Sie träumte davon, einmal als Ärztin den Schmerz aus der Welt zu vertreiben. Sie glaubte, ohne Schmerz wären die Menschen glücklich. So kam sie in die zehnte, elfte und zwölfte Klasse.
Sie tanzte gern. Einmal tanzte sie mit einem jungen Mann, den sie noch nie gesehen hatte. Ihr war aber, als hätte sie bereits von ihm geträumt. Sie verliebten sich, und weil sie sich wie Erwachsene liebten, blieben sie die ganze Nacht über zusammen. Doch wie das Mädchen am Morgen erwachte, war sie allein.
Eines Tages erschrak sie. Sie bekam ein Kind. Sie wollte nicht traurig sein. Sie glaubte, unbefangen zur Schule zu gehen, arglos wie immer zu lachen, und sie wollte ausgelassen wie jeden Tag sein. Doch die anderen merkten die Veränderung, lachten nicht mehr so heiter mit, blickten besorgt, wie andere die Köpfe zusammensteckten und tuschelten. Da wurde das Mädchen unsicher und verlernte nach und nach zu lachen.
Ihre Eltern waren untröstlich und von ihrer Tochter tief enttäuscht. Sie redeten kaum mit ihr. Die Menschen in den Straßen blickten seltsam vorwurfsvoll, und es gab Mädchen und Jungen in ihrer Klasse, die nicht mehr mit der Kameradin sprachen.
Ein Arzt hielt zu ihr. Zwei Lehrer bemühten sich, sie zu ermutigen. Drei, vier Freundinnen ihrer Klasse besuchten sie zu Hause, wobei eine jede bat, es niemandem zu verraten. Das machte das Mädchen noch mutloser. Sie packte ihre Sachen in zwei Koffer und nahm alles Geld, das ihr gehörte. In ihr wuchs ein Kind heran, und sie dachte: Hier sieht mich niemand wieder! Sie verließ ihre Eltern heimlich, und sie trug die schweren Koffer ganz allein. Sie begegnete vielen Menschen. Keiner hielt sie auf.
Die Frau hinter dem Bahnhofsschalter lächelte, als wollte sie sagen: So ist es recht! – Das Mädchen zählte ihr alles Geld hin und fragte: „Wie weit kann ich dafür reisen?“
Die Frau hinter dem Schalter blätterte in einem dicken Buch und begann die Namen aller Orte vorzulesen, bis zu denen das Mädchen für ihr Geld fahren konnte: „Angertal, Auergrund, Dittelheim, Eulsenstuhl, Fallenbruch, Groß-Waldhalde ...“
„Nach Groß-Waldhalde“, bat die junge Auswanderin, denn der Name gefiel ihr. Er klang, als sei die Landschaft dort dem Menschen freundlich und als wären die Menschen nicht wie in dieser kleinen Stadt.
Dann saß das Mädchen im Zug und dachte an ihr Kind. Sie sagte sich: Ich habe ein neues Ziel. Das russische Wort für Ziel ist sel. Der Weg bis zu diesem Ziel wird mir schwer wie der Aufstieg auf einen Berg werden. Das russische Wort für Berg ist gora. Wenn mein Kind ein Mädchen wird, soll es Selgora heißen. Wird es ein Junge, nenne ich ihn Selgo.
So begann Selgos Geschichte, obwohl er noch gar nicht geboren war. Deshalb konnte er auch nicht rufen: Fahr nicht nach Groß-Waldhalde! Dort sind die Menschen wie in dieser kleinen Stadt. Du findest freundliche und andere. Bleib hier. Bitte! Selgo mußte sich den Anfang seiner Geschichte ganz einfach gefallen lassen.

Illustrationen und Umschlagentwurf von Hans Wiegandt
Für Leser von 10 Jahren an

Gebrüder Knabe Verlag, Weimar
Reihe:
Knabes Jugendbücherei
1. Auflage 1979
2. Auflage 1981

Auch erschienen bei:
Postreiter-Verlag, Halle
Reihe: Kleine Jugendbücherei
1. Auflage 1985